2015 bin ich den Jakobsweg in Spanien und Portugal gelaufen, wenn auch nicht ganz traditionell und etwas off-road. Der Rekord lag an einem Tag in Spanien bei 42 zurückgelegten Kilometern. Dank überdehnter Bänder nach dem Umknicken, war mir das tatsächlich fast zu viel. Abgesehen davon war ich aber überzeugt: „Da geht noch viel mehr!“ Ich führte also fortan Diskussionen, in denen ich meinen Standpunkt verteidigte, bis ich im Sommer 2016 bei einem Aufenthalt in WIesbaden morgens einfach meinen Rucksack packte und einfach los ging – mit dem Ziel zu sehen, was an einem Tag möglich ist …
Unten wie immer das Fazit für Gestresste sowie die grobe Packliste. Am Rhein angekommen, lief ich über Eltville am Rhein, Hattenheim, Oestrich-Winkel, Geisenheim bis nach Rüdesheim am Rhein. Ich checkte unterwegs das Kartenmaterial und las über den 320 Kilometer langen Fernwanderweg namens Rheinsteig, der von Wiesbaden nach Bonn führt. So ansprechend ich diesen Weg auch fand, ich wählte für diesen Tag den vergleichsweise einfachen Weg, vor allem, da ich zur Not auch einfach in einen Zug einsteigen und zurückfahren wollte. Das wäre vom Rheinsteig aus etwas komplizierter geworden.
In den Rheinwiesen von Oestrich-Winkel kurz vor Geisenheim, bei denen es sich um ein Nationales Schutzgebiet handelt, wählte ich ungewollt einen recht abenteuerlichen Weg. Dieser war, wie meine Beine schnell feststellten, voll von Brennnesseln, bot aber wenige versteckte und sehr schöne Strandabschnitte mit echtem Sand. In Rüdesheim ging ich im Gewerbegebiet kurz auf Nahrungssuche, bevor mich die Straße nicht mehr weiter führte und mir ein netter Herr mitteilte, dass ich bis Assmannshausen durch die Weinberge gehen müsse. Also zurück und ab nach oben. Ab Rüdesheim beginnt übrigens die UNESCO Welterbe Kulturlandschaft Oberes Mittelrheintal, die in Koblenz endet und seit 2002 auf der Liste des Weltkulturerbes steht.
Mitten in den Weinbergen begann ich mein Knie zu spüren und bedauerte, nichts für solch einen Fall in meinem leicht gepackten Rucksack zu haben. Die Strecke durch die Weinberge von Rüdesheim bis Assmannshausen war nichtsdestotrotz die mit Abstand sehenswerteste Strecke meiner Tour und sicher nur ein dezenter Vorgeschmack auf die landschaftliche Schönheit, die sich beim Begehen des Rheinsteigs bietet.
In Assmannshausen organisierte ich in einem Hotel erst einmal einen Verband für mein Knie und ließ mir dann erklären, dass es bis Lorch keine Möglichkeit in Form von zum Beispiel auch nur einem Fahrradweg entlang der Straße gebe. Als Alternative wurde mir der für diesen Streckenabschnitt wohl acht Kilometer längere Rheinsteig oder der Zug angeboten. Mit Blick auf mein Knie entschied ich mich für den Zug – schweren Herzens. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir schon fest in den Kopf gesetzt, die 50 Kilometer zu knacken.
Wenige Minuten später in Lorch angekommen, nutzte ich die Gelegenheit für eine kurze Pause in einem Café. Das Sitzen machte sich beim Aufstehen bemerkbar und der Schmerz war dann gleich doppelt intensiv. Aber ich hatte ein Ziel vor Augen und ging unbeirrt weiter – jetzt wieder am Ufer entlang. Ich überquerte bald die Grenze von Hessen nach Rheinland-Pfalz. Vor allem gegenüber von Oberwesel begann die Strecke wieder unglaublich sehenswert zu werden. Bis dahin war auch schon absehbar, dass ich bis zum nächsten Bahnhof bis nach Sankt Goarshausen laufen müsste.
Die letzten drei Kurven am Rhein entlang, die auf der Karte so unwesentlich und unbeeindruckend aussehen, zogen sich wie kein Stück zuvor. Ich hatte definitiv die falschen Schuhe an – nämlich die vom Jakobsweg, die ich seitdem kaum mehr angezogen habe. Die Schuhe waren so falsch, dass ich in Rüdesheim bereit gewesen wäre neue zu kaufen, hätte ich in dem einen Schuhgeschäft das ich fand welche gefunden, die ich auch an anderen Tagen noch hätte anziehen wollen. Vom Gefühl her war ich jedenfalls überzeugt, würde ich die Schuhe ausziehen, würden kleine Klumpen aus Knochen und Fleisch herausfallen. Immer wieder dachte ich an den herausragenden Testbericht zu einer 24-Stunden-Wanderung, den ich nach dem Jakobsweg las und die Frage: Wieso mache ich das eigentlich?
Ich brauchte inzwischen eine gefühlte Ewigkeit pro Kilometer und schleppte mich Meter für Meter voran. Nur selten hatte ich kleinere Energieschübe – meist dank Banane, Proteinriegel oder iPod. Als ich schließlich die Loreley erreichte, war ich unfassbar stolz, bevor der kurze Moment der Depression wieder einsetzte, da der nächste Bahnhof immer noch so weit schien. St. Goarshausen war sichtbar. Als ich auf der Karte dann aber sah, dass der Bahnhof am Ende des Ortes liegt, wollte ich einfach nur umfallen, auf dem Asphalt liegen und nie wieder aufstehen. Das alles spielte aber keine Rolle, denn ich wollte ja etwas beweisen. Also ging ich weiter.
In Sankt Goarshausen angekommen, ließ ich mich auf den Stuhl eines Restaurants fallen, da ich eine Wartezeit bis zum Zug von rund einer Stunde zu überbrücken hatte, und wartete auf mein Essen. Der kleine Ort empfing mich mit einem fantastischen Sonnenuntergang und ich war stolz – vor allem aber hätte ich problemlos als langsamer Zombie für The Walking Dead einspringen können. Trotz der sieben Kilometer, die ich von Assmannshausen bis Lorch durch den Zug eingespart hatte, kam ich auf rund 55 Kilometer in insgesamt fast genau 14 Stunden reiner Laufzeit ab 6 Uhr morgens. Durchschnittlich schaffte ich also einen Kilometer in etwa 15 Minuten – und das bei insgesamt 871 Metern Aufstieg und 1005 Metern Abstieg während der gesamten Tour. Die maximale Höhe, auf der ich mich befand, lag bei 239 Metern.
Meine Packliste: Mein Rucksack wog zu Beginn der Tour ungefähr 3,5 Kilogramm und entsprach damit etwa dem Gewicht, das ich auch für acht Tage auf dem Jakobsweg dabei hatte. Viel zu viel! Ich hatte ein zusätzliches T-Shirt, eine kurze Hose und einen Pullover dabei (alles überflüssig), zwei Wasserflaschen (0,5 und 0,75 Liter; eine hätte gereicht, da man sie ja immer auffüllen kann) sowie einiges an Nahrung (Proteinriegel, Bananen, Äpfel. Paprika, etc.). Außerdem Technik wie Kamera, Smartphone, Ladekabel und iPod sowie ein Notizbuch und Stifte.
Fazit für Gestresste: Im Nachhinein hätte ich lieber weniger eingepackt und bessere Schuhe angezogen. Am Tag danach war ich allerdings schon wieder so ausgeruht, dass mit den richtigen Schuhen sicher 30 Kilometer möglich gewesen wären. Dennoch muss ich sagen: die 55 Kilometer waren sehr anstrengend, auch wenn ich mich für gut trainiert halte. Probleme machten ausschließlich die Schuhe und etwa ab 20 Kilometern das Knie. Dank Verband war letzteres recht gut behoben, eine richtige Knie-Bandage wäre perfekt gewesen. Generell hätte ich sicher öfter Pausen machen können, da bin ich aber nicht so der Typ für … Am Ende hätte ich zur Not noch weiter gehen können, es aber nicht gewollt. Insgesamt bin ich sehr froh endlich bewiesen zu haben, dass 42 Kilometer nicht das Maximum waren und gestehe aber ein, dass es 55 Kilometer auch nicht zwangsweise sein müssen …
Hallo Claire, Respekt. Weniger für die Leistung – das mag gut sein oder nicht – sondern für die Konfrontation mit den eigenen Möglichkeiten. Ich bin auch mal 40 km gelaufen, teils querfeldein, mit Wolf nach 25 km und kann gut nachvollziehen, wie es Dir ergangen ist. Nach deinem Post bekomme ich Lust, das Laufen und/oder Pilgern wieder zu intensivieren. Viele Grüße Stefan