2016 ging ich 55 Kilometer an einem Tag, 2018 wiederholte ich die Tour. Auf dem Jakobsweg hatte ich im Februar 2018 den Gedanken, dass ich von der Ausdauer her mindestens die 70 Kilometer an einem Tag knacken kann. Im Juli 2018 war es schließlich soweit und ich beschloss, an einem Tag über 71 Kilometer zu gehen. Meine Route: Von Wiesbaden nach Rüdesheim, mit der Fähre nach Bingen und von dort über Mainz zurück zum Wiesbadener Ausgangspunkt. Geschafft habe ich am Ende 72,36 Kilometer in rund 18 Stunden. Wieso ich beim Gehen meinen Rucksack umarmte, Blätter lecken und neben einem Igel weinen wollte, verrate ich Dir im Bericht zu meinem ganz persönlichen Wandermarathon … Wenn Dir gefällt, was Du siehst, folge mir übrigens gerne auch auf Instagram, Youtube, Twitter oder Telegram.
Inhaltsverzeichnis:
Ausführlicher Bericht zum Wandermarathon: Ich verbringe einen unglaublich heißen Tag bei rund 14 Stunden Fahrtzeit in einem nicht klimatisierten Auto. Als ich schließlich Wiesbaden erreiche, wo ich für mein Vorhaben verabredet bin, müssen noch Vorbereitungen getroffen werden: Essen machen und packen. Gegen 1 Uhr nachts falle ich ins Bett, bevor um 4 Uhr der Wecker klingelt. Keine Zeit zum Snoozen. Es geht los! Vier Tage zuvor legte ich fest, heute meinen ganz persönlichen Wandermarathon zu laufen.
Ultra-Marsch, Ultra-Wanderung und andere Begriffe scheint es dafür zu geben und irgendwie scheint es auch ein Trend zu sein. Ist mir egal, denn ich bin einfach schon immer gerne und viel unterwegs gewesen und habe meine eigene Motivation. Ich möchte beweisen, dass ich über 71 Kilometer gehen kann – an einem Tag, versteht sich. In meinem Kopf schwirren schon ganz dunkel die 100 Kilometer herum, für den Fall, dass ich die 71 tatsächlich heute knacke. Was heißt tatsächlich? Ich bin mir bewusst, dass mein Ego ein Aufgeben nicht verkraften würde. Es gibt also nur die Möglichkeit, das Vorgenommene durchzuziehen!
Ich packe das Essen aus dem Kühlschrank in den Rucksack und wiege ihn. Unfassbar schwere 6,6 kg bringt er auf die Waage. Wie soll ich das tragen? Zehn bis 25 Prozent des Körpergewichts soll ein Wanderrucksack wiegen, heißt es. Meiner wiegt rund 14 Prozent. Für die Dauer des Tragens finde ich das extrem viel. Zum Vergleich: 4,9 Kilogramm wog mein Rucksack Anfang 2018 für zwei Wochen auf dem Camino del Norte in Spanien und 2015 rund drei Kilogramm für acht Tage auf dem Camino Portugues in Spanien. Ich werde bald mit Essen anfangen müssen, denke ich mir.
Meine Challenge starte ich nicht alleine und wir sind beide erstaunt, wie fit wir doch nach nur drei Stunden Schlaf sind, als wir um 5:30 Uhr mit rund 30 Minuten Verspätung das Haus verlassen. Es weht ein frischer Wind und die Sonne strahlt. Sobald die Tür zugezogen ist, esse ich mein erstes Essen. Der Rucksack wird nicht leichter.
Ich habe mich für eine knappe Badeshorts sowie mein Funktionsshirt und die winddichte Jacke vom Jakobsweg entschieden. Die Jacke hat mir bei den 55 Kilometern in der Woche zuvor gut gegen den eisigen Wind geholfen und erweist sich an diesem Tag als überflüssiger Ballast, da ich sie nur die erste halbe Stunde nutze. Erneut habe ich meine Skechers Memory Foam an. Die besten Schuhe, wenn es um lange Strecken im Trockenen geht. Ob sich bemerkbar machen wird, dass ich gerade erst so viel lief? Ob sich der Schlafmangel negativ auswirken wird? Bereits die Nacht davor hatte ich nur rund fünf Stunden geschlafen. Ich befinde mich mitten in meiner Water-Only-Phase und sehe keine Möglichkeit, Koffein zu mir zu nehmen. Es hilft nichts: Ich muss fit bleiben!
Eigentlich wollte ich von Mainz nach Boppard laufen, hatte allerdings Angst, dort den letzten Zug zurück nach Wiesbaden zu verpassen. Da ich morgen früh bereits wieder abreise, habe ich mich also für folgende Strecke entschieden: Wiesbaden, Eltville am Rhein, Oestrich-Winkel, Rüdesheim. Soweit identisch mit der 55-Kilometer-Strecke. Dann mit der Autofähre nach Bingen. Über Ingelheim und Mainz anschließend zurück nach Wiesbaden. Ungefähr würde ich damit die 71 Kilometer knacken. Sollte hier gegen Ende irgendwas passieren, könnte ich immer noch in eine S-Bahn oder einen Bus einsteigen, zur Not ein halbwegs bezahlbares Taxi rufen oder trampen. Definitiv sitze ich mit dieser Streckenwahl nicht im Nirgendwo fest.
Ziemlich schnell merken wir, dass Restaurants und öffentliche Toiletten an einem Wochentag vormittags scheinbar geschlossen sind. Einfach mal Wasser auffüllen oder eine Toilette nutzen, scheint kaum möglich zu sein. Ganz anders, als bei meiner 55-Kilometer-Strecke, die ich an einem Samstag lief. Die Strecke entlang des Rheins ist zudem nicht von Supermärkten bzw. Geschäften gepflastert und schnell wird mir klar, dass dieser Umstand noch zur Herausforderung werden könnte.
Es wird heiß. Ich wechsle bereits in Eltville am Rhein mein Oberteil und habe nur noch ein Tanktop an. Die Träger stecke ich in mein Bandeau-Top, damit meine Schultern streifenfrei braun bleiben. Moment, streifenfrei? Ach ja, … schnell stelle ich fest, dass der Rucksack bei der Sonneneinstrahlung vollkommen ungeeignet ist – ganz unabhängig vom immer noch schweren Gewicht. Ich beginne also bereits vor Rüdesheim, ihn immer abwechselnd auf nur einer Schulter zu tragen, da die Sonne glühend heiß auf meinen Rücken knallt. Trotz guten Beckengurts, ist diese Tragweise belastend. Die Strecke bis Rüdesheim verläuft ohne spannende Vorfälle und inklusive einer kleinen Snackpause an zwei Bänken mit Tisch, direkt am Rhein.
Während der Pause stelle ich die Frage, ob Wandern inzwischen eigentlich so etwas wie ein Hobby geworden ist. Ja, wird mir entgegnet. Im weiteren Verlauf des Gehens, wird mir aber bewusst, dass ich mich so gar nicht mit dem Wort arrangieren möchte. Ich sehe mich nicht als Wanderer. Ich bin mehr jemand, der gerne rumläuft, unterwegs ist, geht. Rumlaufen ist unverbindlicher, wandern klingt so fürchterlich langfristig geplant und durchdacht. Ich ziehe keine Wanderschuhe an, ich plane nicht aufwändig Strecken. Ich sehe mir kurz an, was sinnvoll ist oder gut aussieht und dann gehe ich los. Packe mein Bündel und breche auf. Mit normalen Alltagsschuhen und etwas Essen. Bewege ich mich in Barcelona über 35 km pro Tag, bezeichne ich das ja auch nicht als Wanderung. Nein. Ich bleibe dabei: ich gehe – und fotografiere zwischendurch.
Die Autofähre nach Bingen legt alle 20 Minuten ab und kostet 2,20 Euro pro Person. Die kurze Überfahrt wird als Pause genutzt und ich snacke in der Hoffnung, mein Gepäck zu erleichtern. Funktioniert nicht so richtig … Auf der anderen Seite angekommen, geht es also zurück. Schade irgendwie, da die schöne Strecke mit dem UNESCO-Welterbe ja erst ab Rüdesheim in Richtung Loreley beginnt. Die Strecke ab Bingen Richtung Mainz gefällt mir gar nicht. Man sieht den Rhein nur streckenweise, läuft sonst an Industrie und Bahnschienen vorbei. Auch Felder sehe ich viele, will ich aber nicht. Die Strecke zieht sich, ich bin alles andere als begeistert. Dazu kommt die Sonne, die bei wolkenfreiem Himmel jetzt richtig knallt.
Ich beschließe, dass Schönheit über Wohlbefinden geht und dass ich meine streifenfreie Bräune definitiv erhalten möchte. Wie sinnvoll das ist, sei mal dahin gestellt … Die Entscheidung führt jedenfalls dazu, dass ich jetzt nicht mehr nur im Fünf-Minuten-Takt meinen Polar Loop entweder hängen lasse oder hoch quetsche, um keinen Strich am Arm zu haben. Nein, jetzt spiele ich auch noch ein lustiges Spiel mit meinem immer noch zu schweren Rucksack: 1. Rund acht Minuten nur den linken Träger und Beckengurt nutzen. 2. Rund acht Minuten nur den rechten Träger und Beckengurt nutzen. 3. Rund 15 Minuten den Rucksack nach vorne nehmen, den Beckengurt hinten schließen (gar nicht gut!) und ihn umarmen. Das ist jetzt nicht mehr nur noch für die Schultern belastend, sondern für den gesamten Rücken …
Auf Höhe Ingelheim bin ich kurz vor dem Aufgeben. Ich bin unendlich genervt von der ätzenden Strecke, ich habe keine Lust mehr, ich will nicht mehr! Die noch vor mir liegenden Kilometer – vor allem im Vergleich zu den wenigen bereits zurückgelegten – erschlagen mich. Ich weiß, es ist eine Kopfsache. Ich versteh’s auch nicht. Ich bin so genervt! Ich bin auch langsam. Ich will einerseits aufgeben, andererseits die Fähre nehmen und wenigstens auf der „schönen“ Seite zurück laufen. Ich weiß aber auch, dass ich dann noch zehnmal im Kreis rennen müsste, um auf die 71 Kilometer zu kommen. Ich bin so genervt! Ich schlage eine Pause vor. Wir suchen ein Bad neben der Ingelheimer Fähre auf. Dort mache ich meine Kleidung nass und lasse mich kurz nieder. Ich habe einen Tiefpunkt erreicht. Ich bin genervt von mir selbst, weil ich Aufgeben überhaupt in Betracht ziehe. Ich verkünde, dass wir nun die Fähre auf die andere Seite nehmen und dort zurück laufen – weil ich es sage!
Nach gefühlten und vielleicht auch realen 20 Minuten verlassen wir das Schiff, auf dem sich das Bad der Bar befindet. Zielstrebig rase ich davon, an der Fähre vorbei. Was mit Übersetzen sei, werde ich gefragt. „Ist mir egal“, sage ich und gehe weiter. Ich würde nicht damit klarkommen, jetzt nicht weiter zu gehen. Auf der anderen Rheinseite hätte ich sicher auch keine Motivation, ziellos durch die Gegend zu irren, nur um auf die Kilometer zu kommen. Nein! Ich habe mir das Ziel gesetzt und werde es erreichen. Vor Mitternacht. Egal wie. Wenige Minuten hinter Ingelheim sind wir plötzlich wieder nah am Rhein. Der Weg ist schön, es kommen Abschnitte mit Strand. Ich bin extrem froh, nicht aufgegeben zu haben.
Die Sonne knallt und der Rucksack erweist sich zunehmend als Qual. Meine Begleitung leidet unter Schmerzen am Knie, die ein Stehenbleiben kaum noch ermöglichen. Ich esse und esse, damit ich weniger tragen muss. Ebenfalls ist problematisch, dass es auch auf dieser Rheinseite nur selten die Möglichkeit gibt, Wasser aufzufüllen. Ich trinke zu wenig. Wir trinken zu wenig. Meine 0,75-Liter-Flasche erweist sich als gut. Besser jedenfalls, als die 0,5-Liter-Flasche meiner Begleitung. Etwa bei Kilometer 44 trennen sich unsere Wege. Während ich weiter gehe, führt der andere Weg zum nächsten Bahnhof und mit dem Zug zurück nach Wiesbaden. Sobald ich alleine bin, gehe ich schneller. Viel schneller. Von zuvor 15 bis 20 Minuten pro Kilometer, ziehe ich an auf elf bis 13. Ich bin hoch motiviert! Ich ziehe das heute durch – und am Ende wird jemand auf mich warten und ich werde stolz sein, nicht aufgegeben zu haben.
Eine Weile begegnet mir fast kein Mensch mehr, bis ich schließlich am Stadtrand von Mainz ankomme. Ich mache eine kurze Pause und freue mich, für einen Moment die Schuhe auszuziehen. Ich esse. Dann geht es weiter. Manchmal gehe ich die Extra-Meile durch die Natur, manchmal gehe ich Abkürzungen. Ich bin relativ fit, allerdings ist es frustrierend, noch immer nicht die 55-Kilometer geknackt zu haben. Mein Kopf sagt mir, dass der schwierige Part erst danach kommt, weil es der neue und unbekannte Part ist.
Ich lasse Mainz Budenheim hinter mir, schreite unter der Schiersteiner Brücke hindurch, die seit gefühlten drei Jahrzehnten Baustelle ist. Ich staune über die zweite Brücke, die bereits existiert aber nicht fertig ist und erreiche schließlich ein Fast-Food-Restaurant in Mainz-Mombach. Mein armer, kleiner Körper ist erschöpft und fühlt sich gebraten. Ich spüre jeden Meter, den ich heute lief, in Form von Müdigkeit und Schwere. Im Bad will ich mein Wasser auffüllen, aber es gibt nur warmes Wasser. Ich denke, dass jetzt schon noch mehr kommen wird, wo ich das nachholen kann. Auf ein Eis verzichte ich, auch wenn mir die Vorstellung kurz vorher noch gut erschien. Ich will aber auch nichts tragen. Nichts halten. Nichts essen. Ich blicke in den Spiegel und erschrecke mich. Ich blicke an mir herunter und starre wieder fassungslos zurück in den Spiegel. Alles an mir ist schmutzig. Man sieht mir die Strecke an. Zügig wende ich den Blick ab und ziehe weiter.
Die Stadt ist in Sichtweite. So auch ein Supermarkt. Bevor ich dort hingehe, wechsle ich auf der Treppe daneben kurz meine Socken. Besser wäre, ich hätte eine zweite Memory-Foam-Sohle mitgenommen … Ich brauche Koffein – in essbarer Form, um meine Water-Only-Phase nicht kaputt zu machen. Ich suche. Ich finde nichts. Ich bin frustriert. Frustriert kaufe ich ein Eis ohne Stiel, damit ich nicht lange etwas tragen muss. Erst kurz vor der Theodor-Heuss-Brücke, die nach Wiesbaden führt, fällt mir ein, was ich vergessen habe: Wasser! In meiner Flasche sind nur noch etwa 100 ml.
Ich bin unendlich froh, als ich die Brücke passiert habe. Eigentlich verstehe ich auch gar nicht, wie überall Menschen sitzen und chillen können. Niemandem von jenen, deren Blick mich flüchtig streift, weiß, wieso ich so langsam und schmutzig vor mich hin stapfe. Es fühlt sich an wie Jakobsweg, nur ganz anders. Weil hier keiner weiß, wieso ein Mensch hier langsam und schmutzig vor sich hin pilgert. Theoretisch könnte ich aussehen, wie ein Mädchen, das mit ihrem Rucksack unterwegs ist. Aber man sieht mir an, wie fertig ich bin. Ich werde von einem Fahrradfahrer angebrüllt, weil ich mich kurz auf seinen Weg verirre – was eigentlich absolut egal ist, denn außer uns ist niemand da. Soll er also brüllen, ist mir egal. Ich habe hier eine Mission zu erfüllen. Ich freue mich über den Gedanken, gleich in Biebrich und dann am Ziel zu sein …
Kurz auf meine Freude folgend, begegnet mir ein Wegweiser. Biebrich: 3,3 Kilometer. Ich stehe und starre die grüne Schrift auf weißem Grund an. Bitte was? 3,3 Kilometer? Und dann noch all den Rest, der danach folgt? In meinem Kopf war ich fast schon am Biebricher Schloss. Bei etwa 60,7 Kilometern sage ich erstmals: „Ich kann nicht mehr!“ … und meine es nicht so. Es braucht 65 Kilometer, bis ich aggressiv werde bzw. aggressiv auf meine Umgebung reagiere. Ich bin genervt. Von allem. Ich will nicht mehr. Es ist noch so weit. Es wirkt unüberwindbar und es beginnt zu dämmern. Wollte ich nicht unaufhaltbar sein? Bin ich das nicht? 66,7 Kilometer bin ich gegangen, als ich beschließe, niemals in meinem Leben 100 Kilometer an einem Tag zu gehen und mir das selbst als Nachricht schicke. Ist sicherer. Trotz allem bin ich schmerzfrei. Klar, ich spüre das Auftreten … Aber sonst? Schmerzfrei. Wahnsinn. Ich überrasche mich damit selbst!
Ich weiß, dass bald die Steigung beginnt. Ich will nicht. Irgendwann sitze ich an einer Bushaltestelle und jammere. Ich jammere erbärmlich, bis mir schriftlich vorgeschlagen wird, ein Taxi zu rufen. Sofort bin ich wütend, fühle meine Geh-Kompetenz unterwandert. Also springe ich auf, so gut ich es mit meinem müden, schmutzigen, kleinen Körper noch kann, und stapfe weiter. Schritt für Schritt. Habe im Kopf einen Countdown. Einen Countdown, der gegen die Dunkelheit anläuft. Ich fühle mich klein und schwer … kämpfe gegen die Müdigkeit, Schwerkraft und Dunkelheit an. An einer Baustelle lande ich in einer Sackgasse, weder für Autos noch für Fußgänger passierbar. Ich würde schreien, hätte ich noch die Kraft dazu. Und ich habe keine Kraft für lange Umwege. Ich taste mich vorsichtig durch die Dunkelheit, denn mein Smartphone mit Lichtfunktion lädt im Rucksack. Ich hoffe, dass keine Löcher im Boden der stockfinsteren Unterführung sind und erreiche das Ende der Baustelle. Alles ist verriegelt und ich feiere so sehr, dass ich auf den Zentimeter dünn genug bin, mich an dem einzig halbwegs passierbaren Gitter entlang zu quetschen. Für einen Moment lache ich sogar vor Freude. Den Rucksack reiße ich mit Gewalt hinterher …
Es geht bergauf. Ich habe noch schätzungsweise 20 ml Wasser übrig. Als ich die Flasche leere, fallen mir verschiedene Filme und Serien mit verdurstenden Menschen ein, die Regen von Blättern lecken. Abgesehen davon, dass es nicht geregnet hat, bin auch ich kurz davor Blätter zu lecken. Mir ist nichts mehr begegnet, wo ich Wasser hätte auffüllen oder kaufen können und ich habe vermutlich erstmals in meinem Leben massiv Durst. So richtig. Wie privilegiert wir doch in Deutschland leben, denke ich mir … Ich will bei Fremden klingeln und sie anbetteln, mir Wasser zu geben. Ich bin vollkommen dehydriert, denn vor inzwischen bald 20 Kilometern hatte ich zuletzt noch Wasser – die 100 ml Rest mal nicht eingerechnet. Würde mir ein Mensch begegnen, würde ich ihn ansprechen. Mir begegnet aber niemand. Alles ist ausgestorben und ich quäle mich weiter den Berg hoch.
Ich denke, ich werde langsamer. Ist nicht so. Ich bleibe stehen, sehe mir mein Tracking an. 72 Kilometer. Mehr als die 71, die ich nur erreichen wollte. Irgendwo in mir ist Freude. Gepaart mit Stolz, glaube ich. Schlagartig spüre ich mein Knie. Vermutlich, weil mein Kopf denkt, bei dieser Distanz müsse man Schmerzen haben. Ich weiß, das Ziel ist nah. Und dennoch kann ich nicht mehr. Mein Körper fühlt sich kleiner und schwerer, denn je. Ich bewege abwechselnd meine Beine – und dann nicht mehr. Ein Igel rast vor mir über die Straße und dann am Straßenrand entlang. Er bleibt stehen, starrt mich an. Ich starre zurück und möchte nur noch weinen. Wieso ist er so schnell und ich bin es nicht? Ich fühle mich von diesem kleinen Lebewesen gedemütigt.
Ich bin am Ende, ich fluche rum, ich möchte den Igel beschimpfen. Ich mache es nicht. Ich schleife meinen Körper weiter. Eigentlich gehe ich halbwegs normal, aber es fühlt sich tatsächlich an, als wäre ich Darsteller von The Walking Dead. Ich weiß aber, dass ich es nicht bin, denn ich erinnere mich noch gut an das Ende meiner ersten Jakobsweg-Tour und dass ich da tatsächlich als Zombie hätte durchgehen können. Im Vergleich dazu bin ich nun fit, das weiß ich. Die letzten 360 Meter ziehen sich. Winkend, mit einem Finisher-Banner, einem stolzen Lächeln und einem Liter Wasser werde ich empfangen. Ich schütte das Wasser in mich, als hätte ich nie etwas getrunken. Mir tut nichts weh. Ich habe keine Schmerzen. Meine Beine sind topfit. Ich bin nur schmutzig. Schmutzig und schwer und vor allem langsam in all meinen Bewegungen. Froh, die Schuhe ausziehen zu können. Ich dusche und lasse heißes Wasser auf mich prasseln. Ich kann nicht fassen, dass ich 72,36 Kilometer an einem Tag ging, dass ich es einfach durchgezogen habe. Ich bin stolz und anders als nach den 55 Kilometern absolut nicht an Essen interessiert. Ich berichte noch von der restlichen Strecke und falle zwei Stunden nach meiner Ankunft ins Bett …
Zusammenfassung für Gestresste: Insgesamt ging ich 72,36 Kilometer in einer Zeit von 18 Stunden, einer Minute und 52 Sekunden. Die durchschnittliche Geschwindigkeit lag damit bei etwa 4,01 km/h und ich hatte somit ein durchschnittliches Tempo von 14:57 min/km drauf. Zudem hatte ich insgesamt einen Aufstieg von 1441 Metern und einen Abstieg von 1474 Metern, bei einer maximalen Höhe von 259 Metern und einer minimalen von 35 Metern. Verbrannt habe ich an diesem Tag laut Polar Loop über 3.500 Kalorien. Meinen langsamsten Kilometer beschritt ich – dank Pause – mit 33 Minuten, den schnellsten überraschenderweise bei Kilometer 64 mit nur neun Minuten. Ab Kilometer 65 brauchte ich trotz aller Erschöpfung und Anstieg zum Ende hin nur 13 bis 16 Minuten pro Kilometer. Für insgesamt sechs Kilometer benötigte ich – dank Pausen – jeweils über 20 Minuten.
Ich bin im davon überzeugt, dass meine – in diesem speziellen Fall vor allem vollkommen irre – Rucksack-Tragerei ein riesiges Problem in Sachen Fitness darstellte. Die Thai-Massage am Tag danach sorgte für jede Menge Entspannung und ist absolut für ein solches Vorhaben zu empfehlen. Für die 100 Kilometer muss in jedem Fall eine Rucksack-Lösung her. Ich würde in diesem Fall auch mehr auf Riegel und weniger auf Obst setzen, um Gewicht zu sparen. Mehr als drei Kilogramm sollte man nicht mitnehmen für solch einen Marsch. Zudem würde ich Sohlen zum Wechseln empfehlen, ebenso wie Socken. Ich setze auf Memory-Foam-Sohlen und Bambus-Socken mit Poren von „Nur die“. Wie ich finde, die beste Kombination für lange Strecken – insbesondere im Sommer. Super wichtig: für ausreichend Wasserzugang sorgen! Die Strecke sollte mit Bedacht gewählt sein – alternativ muss man mehr Wasser mitnehmen. Wer weiß, dass er Probleme mit Knien oder Ähnlichem hat, sollte z. B. mit Bandagen oder Tape auf alles vorbereitet sein. Insgesamt bin ich wahnsinnig froh und stolz, die 72 Kilometer geknackt zu haben und bin gespannt, wann ich mich für die 100 entscheide.
Packliste zum Wandermarathon: Für meinen 72,36 km langen Wandermarathon wählte ich den Moab Jam 30. Darin waren eine Gurke, 300 g Dattel-Tomaten, zwei Äpfel, vier Nektarinen, drei Bananen, ein Pancake (drei kleine Bananen und fünf Eier als Teig), ca. acht Scheiben Knäckebrot, ca. acht Scheiben Maiswaffeln, eine Packung Russisch Brot (perfekt zum Snacken!), vier Energieriegel, ein Schinken-Käse-Croissant, eine Sesam-Stange, ein Laugenbrötchen, zwei Jogurt-Schnitten und eine 0,75-Liter-Flasche Wasser. Außerdem mein Power-Bank, drei Smartphones, eine Kamera, eine Knie-Bandage, ein Tanktop und ein Bandeau-Top. Ebenfalls Desinfektionsmittel, Sonnencreme, Taschentücher und einen Schlüssel. Nach dem Umziehen waren noch die Jacke, das Shirt, ein Sport-Top und für die Dauer des gemeinsamen Gehens die Weste meiner Begleitung im Rucksack.
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Hallo Claire,
Respekt! Ich bin im Sommer 20 Kilometer an einem Tag gegangen und habe mich danach schon hinreichend ausgelaugt gefühlt. Mehr wäre sicher möglich gewesen, aber ich hätte das in keinem Fall gewollt. Vielleicht gehe ich aber auch 2019 mal die 30 Kilometer an, dein Bericht war so motivierend, dass man mehr leisten kann. Ist vermutlich echt ne Kopfsache. Hat Spaß gemacht es zu lesen und die Bilder sind super Einblicke in deinen Tag.
Herzlichst,
Sonja
Hallo Sonja,
vielen Dank für Deinen Kommentar! Keine Sorge, ich weiß, dass auch 20 Kilometer eine Menge sind und bin mir sicher, dass nur wenige Menschen so viel an einem Tag gehen. Aber ja: es ist eine Kopfsache, klar. Wenn Du die 30 Kilometer gegangen bist, dann gib‘ gerne mal Bescheid, wie es war. :) Ich bin gespannt, wie es bei mir mit den 100 km in 2019 wird …
Alles Liebe,
Claire
Ich habe die 32 km im Januar in Tokyo hinter mich gebracht. Das war an sich gar nicht sooo schlimm. Jedoch hatte ich einen Tag später mit einer Blase zu kämpfen. Gott sei Dank ist die nicht kaputt gegangen und ein Pflaster hat den restlichen Urlaub schmerzfrei gemacht :)
Die 32 km bin ich allerdings etwas „anders“ gelaufen :) Siehe hier in meinem Youtube Video dazu: https://www.youtube.com/watch?v=Ifi1zaUSUbw
Insgesamt bin ich an dem Tag sogar 38 km gelaufen, aber für mich persönlich rechne ich nur die 32 an ;) Aber ich denke schon an die 42 km…mein nächstes Zeil :)
Hallo Keenora,
ich drücke die Daumen, dass es bald mit den 42 km klappt und wünsche Dir viel Spaß dabei! Für mich stehen diesen Sommer ja die 100 km an einem Tag an – ich bin gespannt!
Gruß, Claire
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