Heimat ist ein flüchtiger Ort – auch für Alice, die ohne Vorwarnung aus ihrem glücklichen Leben gerissen wird, ihr Haus verliert und sich statt im Wunderland heulend und schluchzend in einer Badewanne wiederfindet. Ihr Freund, das Kaninchen, ist verschwunden und sie macht sich auf die Suche – aber nicht nur nach ihm, sondern auch nach Ruhe, Sicherheit und vor allem einem neuen Zuhause …
„There is no place like home.“ Diesen Satz sagt Dorothy im Zauberer von Oz, um endlich in ihr geliebtes Zuhause zurück zu kehren. Ob Alice den Satz wohl auch manchmal sagen will, in der Hoffnung, alles wäre nur ein böser Traum gewesen? Wie auch Dorothy muss Alice feststellen, dass ihr Zuhause verschwunden ist und das sieht man vor allem ihrer so ausdrucksstarken Mimik mehr als genug an. Nicht nur deshalb vergisst der Zuschauer schon nach wenigen Minuten den Open-Air-Theaterplatz und findet sich in Alices Welt wieder, wo er sich mit ihr auf eine ganz besondere und emotionale Reise begibt.
Im Disney-Klassiker „Alice im Wunderland“ fragt sich die kleine blonde Alice im finsteren Wald: „Ob ich wohl überhaupt noch mal nach Hause komm‘?“ Alice on the Run kommt fast ohne Worte aus – und dennoch wird klar, dass diese Frage im Kopf des Mädchens umhergeistert, dessen ursrprünglich weiße Strumpfhose schnell von den Strapazen der Flucht gekennzeichnet ist und dessen gelbe Schleife im Haar schnell verloren ging. Alice gelangt zunehmend ans Ende ihrer Kräfte …
Nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Elemente des Bühnenbildes, die über den Platz verteilt sind, erhält das Theaterstück eine unglaubliche Dynamik. Die Darsteller und Bühnenelemente sind ständig in Bewegung und ebenso das Publikum. Alice flüchtet von einem Ort zum anderen, soll mit der weißen Königin Tee trinken, Flamingos als Schläger benutzen, versteckt sich in einem Koffer, wird von der roten Königin gefangen genommen, schrumpft und reist auf einer Fliege weiter, verfällt dem Fast-Food-Wahn, muss ihre überflüssigen Pfunde zu rhythmischer Musik wieder abtrainieren, mit willkürlicher Bürokratie kämpfen und wann auch immer sich ein paar Sekunden zum Verharren finden, verfällt sie in tiefste Verzweiflung. Bewegende Momente!
In Zeiten, in denen Flucht, Not und Verfolgung omnipräsent sind, widmet sich Alice on the Run dem Thema der unfreiwilligen Flucht. Der Zuschauer empfindet Alices Rastlosigkeit hautnah mit und jeder, der sich schon mal „lost“ fühlte, kann sich in ihre Lage hinein versetzen. Alice findet nirgendwo Ruhe und man leidet mit ihr. Wünscht sich für sie, dass sie irgendwann ankommen kann. Ankommen an einem Ort, den sie zu Hause nennen kann – und damit ist hier kein Ort gemeint, an dem sich das WLAN automatisch verbindet.
Hier geht es um viel mehr, als um das Leben, das zum Beispiel digitale Nomaden führen, die von einem Ort zum anderen reisen oder gar fliehen. Es werden intelligent und mehr oder weniger subtil politische Botschaften vermittelt, was Lewis Carrolls Geschichte rund um Alice und ihr erträumtes Wunderland in keinem Fall den Zauber nimmt. Alice ist groß, winzig klein, furchtbar dick oder wieder dünn, aber sie ist immer auf der Flucht. Auf der Flucht vor der Vergänglichkeit, vor dem Unbeständigen, der Angst und Sorge und auf der Suche nach etwas Beständigem.
Bei nur rund 9 Grad Celsius fand die Premiere des Open-Air-Theaterstücks „Alice on the Run“ Anfang Mai ab Einbruch der Dunkelheit auf dem Gelände der Alten Messse Leipzig statt. Der Platz war voll und alle warteten gespannt auf die Inszenierung durch die Open-Air-Spezialisten „Theater Titanick“, die bereits seit Anfang der 1990er-Jahre in Münster und Leipzig beheimatet sind. Während der rund 80-minütigen Aufführung konnte man sich so im Stück verlieren, dass man die Kälte kaum spürte. Man war gefangen in der Story, so wie Alice in ihrer Hilflosigkeit gefangen war. Was sechs Schauspieler, einige Gabelstapler und ein großes Team mit unter anderem vielen Technikern umgesetzt haben, war mitreißend und berührend zugleich.
Wer wollte, konnte mit den beweglichen Schauplätzen mitwandern und noch näher das Leid der Protagonistin miterleben, alternativ konnte man Alices Weg auch von nur einem Blickwinkel aus betrachten. Beim fulminanten Finale rund um das Schachduell zwischen Alice und dem Kaninchen bzw. weißer und roter Königin gab es mit Feuerwerk und Flammen tolle Spezialeffekte, welche die Zuschauer zum Staunen brachten. Die waren super, aber nicht mal nötig, denn das Theaterstück verzauberte auch ganz ohne diese Art von Action oder große Worte. Wer die Möglichkeit hat: unbedingt ansehen! Mehr Infos auf der offiziellen Webseite.
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