Mein erster Tag auf dem Camino del Norte. Meine Strecke führt mich von Santiago de Compostela nach Tapia de Casariego. Insgesamt gehe ich rund 27,54 Kilometer, für die ich etwa 7:14 Stunden brauche. Ich lasse rund 630 Meter Aufstieg und rund 644 Meter Abstieg hinter mir zurück. Lies hier, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben alleine und unerwartet trampen muss, vor einem LKW-Fahrer fliehe und meine wasserabweisende Hose resigniert … Infos zu meinen Reisen findest Du hier, auf Instagram und auf Youtube. Auf Twitter und über Telegram wirst Du zudem über neue Beiträge informiert. Hier geht’s zur Übersicht der einzelnen Tage. Weitere Fotos vom Jakobsweg findest Du auch in der Fotoparade zum ersten Reisehalbjahr 2018.
Um halb 8 bin ich wach und im Zimmer ist es so kalt, dass ich denke, es schneit darin. Ich esse einen vom Vortag übrig gebliebenen Berliner, in dem die Marmelade zu einem harten Klumpen „gefroren“ ist. Ich ziehe mir alles an, was ich finden kann und verlasse um kurz nach 8 das ausgestorbene Hotel. Den Schlüssel lasse ich an der Rezeption liegen. Draußen ist es unfassbar kalt und nach wenigen Metern beginnt es zu regnen. Ich bin genervt, weil mir die Kapuze fehlt. Mir ist kalt, weil es kalt ist. Ich bin glücklich, weil ich Palmen sehe. Ich bin tot, weil es bergauf geht und ich müde bin. Mir ist heiß, weil es unter der Jacke verdammt schnell aufwärmt, ich sie aufgrund des kalten Windes aber nicht öffnen kann. Ich bin dankbar für mein sogenanntes Funktionsschaf, also mein Funktionstuch, das ich wie ein Kopftuch über den Kopf ziehen kann und das mich halbwegs vor dem Regen schützt.
Um kurz vor 9 fährt an der Busstation mein Bus ein. Ich frage zweimal nach, ob es sicher der richtige Bus ist. Es gibt reservierte Plätze und ich sitze ganz vorne, mit Ausblick. Es gibt WLAN und man kann Technik laden. Super! Die Weste mit ihren viel zu engen Ärmeln treibt mich in den Wahnsinn und ich wünsche mir eine Schere. Zumindest bis mir einfällt, dass sie nur geliehen ist … Bereits im Bus fällt mir auf, dass meine Wanderschuhe verdammt eng geschnürt sind. Normalerweise schnüre ich keine Schuhe, zumindest nicht eng. Niemals. Alle Sneaker sind nur innen lose geschnürt. Schuhe zum Schnüren, die über den Knöchel gehen, trage ich nie. Es ist ungewohnt und damit auch unangenehm. Wir fahren über A Coruna. Als wir dort weiterfahren, beginnt es zu regnen und ist nur noch grau.
Gegen 11 Uhr fällt mir auf, dass es in meinen Schuhen kalt wird. Dazu gesellen sich Kopfschmerzen. Ich nehme eine Tablette. Würde ich normalerweise nicht, aber ich weiß, was ich noch vor mir habe. Neben mir sitzt eine Frau und ich fühle mich von allem super eingeengt: Shirt, Leggings, wasserabweisende Hose darüber, Westenärmel, Schuhe, Sitznachbarin. Es liegt Schnee! Alle Berge sind weiß. Diese Wetter-Überlegungen waren der Grund, wieso ich entschied, am Anfang bis zum Meer zu fahren und nicht durch die Berge zu wandern. Es sieht aus wie Winter, als ich mich entscheide, ein Hörbuch zu starten. Zehn Minuten brauche ich, dann gebe ich auf. Ich bin nicht gemacht für so etwas. Ich langweile mich zu Tode, wenn ich einer – wie ich finde – monotonen Stimme zuhören soll. Bereits nach einer Minute, hatte der Sprecher mich verloren. Ich packe das Smartphone weg und bestaune das Winter Wonderland, das an mir vorbeizieht.
Um kurz vor 12 sehe ich das Meer. Ein wenig freue ich mich, wenngleich ich Respekt vor dem Wetter habe und weiß, dass die verfügbare Kleidung kaum dafür geeignet ist. Um genau 12:10 Uhr starte ich mit meinem Jakobsweg. Von Ribadeo führt mich mein Weg nun über Gijón und Santander nach Bilbao. Gibt man diese Route bei Google Maps ein, erhält man als Angabe 428,5 Kilometer. Das ist der direkte Weg, der nicht zwangsweise am Meer entlang führt. Genau dort wird mein Weg aber entlang führen, unabhängig davon, ob es sich dabei um den offiziellen Camino del Norte bzw. Küstenweg handelt oder nicht. Ich will Küste sehen! Um 12:13 Uhr fotografiere ich mein erstes Jakobsweg-Schild.
Ich bin froh und dankbar, mich für wasserdichte Schuhe entschieden zu haben, die über den Knöchel gehen, denn es regnet. Obwohl ich entgegen des eigentlichen Jakobswegs laufe, nämlich weg von Santiago de Compostela, zeigen die Schilder in die Richtung, in die ich gehe. Ich verstehe es nicht, gehe aber dennoch zu dem Leuchtturm, den ich mir als Ziel heraussuchte. Die Ausblicke sind traumhaft schön – und ich bin mir bewusst, dass es sich hierbei noch lange nicht um die wahrhaft schönen Streckenabschnitte handelt.
Ich traue meiner regendichten Jacke – unberechtigterweise – nicht und nutze zusätzlich meine spontan noch eingepackte Regenjacke, die ich einst für meine halbe Weltreise kaufte. Um 13 Uhr sind meine Schuhe von außen bereits komplett nass – und lassen mich absolut nicht im Stich. Ich bin begeistert! Etwa eine halbe Stunde später verstehe ich nach langem Suchen, dass es sich bei der Brücke, die ich überqueren muss, um eine Autobahnbrücke handelt, die man ohne Auto nicht passieren kann. Nein, ich hatte, wie bereits beim Camino Portugues, nicht wirklich die Strecke recherchiert … Ich bin mir bewusst, dass ich keine Zeit habe, um aufwändig nach einer Lösung zu suchen, also versuche ich zu trampen. Das Ergebnis: etliche Autofahrer signalisieren mir, dass ich in die falsche Richtung unterwegs bin. Keiner versteht, dass ich nicht unterwegs nach Santiago bin.
Insgesamt 20 Minuten dauert es, bis eine alte Frau anhält, die mir die korrekte Richtung des Jakobswegs auf Spanisch zu erklären versucht und der ich in verschiedenen Sprachen und anhand einer digitalen Karte zu erklären versuche, dass ich nur zum anderen Ende der Brücke möchte. Widerwillig lässt sie mich einsteigen. Sie redet auf Spanisch mit mir und ich nicke verständnisvoll, ihr signalisierend, dass ich kein Wort verstehe. Ich bedanke und verabschiede mich auf Deutsch und sie antwortet auf Spanisch. Das dritte Mal trampen in meinem Leben ging also ebenfalls gut.
An einer Tankstelle nutze ich kurz das Bad und packe etwas Proviant für unterwegs aus. Kurz darauf warte ich auf einen beruflichen Anruf, als ich am Rand eines Kreisels gehe. Da ich mit den Kopfhörern beschäftigt bin, fällt mir erst spät auf, dass ein LKW-Fahrer bereits die zweite Runde dreht und mich anstarrt. Ich gehe in eine Sackgasse, die mich zum Meer führen soll. Er fährt neben mir her, hält an und versucht den Lärm des LKW zu übertönen, in einer Sprache, die ich ziemlich sicher nicht spreche und ob des Lärms auch nicht ernsthaft erkennen kann. Mein Anruf. Ich nehme ihn an, während der LKW-Fahrer beharrlich weiter kommuniziert. Ich rufe ihm „Camino“ zu und gehe weiter. Er fährt an mir vorbei, ich konzentriere mich aufs Telefonat.
Erst ziemlich spät sehe ich, dass der Mann am Ende der Sackgasse neben seinem LKW steht. Ich wandere nach rechts ab zum Meer. In diesem Augenblick höre ich, dass er anfängt zu brüllen und sehe, dass er die Arme über seinem stämmigen Körper gen Himmel reißt und wild gestikuliert. Er wird lauter, ich schneller. Und informiere mein telefonisches Gegenüber kurz über Situation und Aufenthaltsort, sollte der Mann schneller laufen können, als man es ihm zutraut. Irgendwann verklingt sein Gebrüll und ich atme tief durch.
Ich komme wahnsinnig schleppend voran und habe gegen 15 Uhr etwas weniger als die Halbzeit meines Tagesplans erreicht. Mir ist bewusst, dass ich schneller werden muss, um im Hellen anzukommen. Ich bin unendlich dankbar für die Schuhe und mir bewusst, dass ich mit schlechteren bzw. ungeeigneteren bereits aufgegeben hätte. Immerhin ist es inzwischen etwas wärmer. Fast zu warm, für die Thermo-Leggings unter der wasserabweisenden Hose. Generell ist es zum Gehen aber ziemlich perfekt, zum Fotografieren leider etwas zu grau. Ich denke, dass die Schuhe zu eng geschnürt sind, finde aber auch keine richtige Lösung. Seit dem LKW-Incident sind mir nur ein Auto und zwei Personen begegnet – Februar halt. Bald gelange ich an einen Strand und die Sonne scheint. Ich erinnere mich an die Problematik mit freilaufenden und teils aggressiven Hunden entlang des Jakobswegs und freue mich, dass bislang alle angeleint waren.
Aufgrund der Fotografiererei bin ich viel zu langsam und verbringe die Zeit gedanklich mit Rechnen: schaffe ich es noch im Hellen zum Hotel oder nicht? Gegen 17 Uhr lande ich in einer Sackgasse. Ich weiß bereits jetzt, dass ich diese Erfahrung nicht mag und auch zukünftig nicht mögen werde. Ich bin genervt, ob der nahenden Dunkelheit. Schließlich finde ich einen Weg quer über Wiesen und Felder. Erneut feiere ich meine Schuhe! Allerdings retten die mich kurz darauf nicht durch das Hochwasser, das meinen Weg blockiert. Ich komme nicht weiter. Ich stampfe angestrengt durch kniehohes Gras und hoffe, hoffe, hoffe, dass meine Hose ziemlich wasserabweisend und nicht nur leicht wasserabweisend ist. Am Ende lande ich auf einer kleinen Straße und merke, dass meine Hose sich zwischenzeitlich wohl dachte: „Du kannst mich mal!“ Ich seufze und pilgere weiter, hoffend, dass die Sonne alles schnell trocknet. Ich bin bereits jetzt riesiger Fan von meiner Jacke, die zwar nicht warm ist, aber absolut keinen Wind durchlässt.
Gegen 17:45 Uhr bin ich bereits eine Weile im Wald unterwegs und fühle mich wie in Jumanji. Mir ist kalt, da keine Sonne scheint. Wenige Minuten später knacke ich die 20 Kilometer. Eine Stunde später erreiche ich nach einem Supermarkt-Besuch mein Hotel, in dem mich ein netter Herr auf Englisch namentlich begrüßt. Er wirkt sehr aufgeregt und berichtet, ich sei der erste Pilger des Jahres. Dass ich die umgekehrte Richtung laufe, findet er spannend. Das Bad ist wunderschön, das Zimmer normal. Ich bemerke schnell, dass mir kalt sein wird … Auf Empfehlung des Hotel-Mitarbeiters gehe ich kurz nach dem Check-In zum Hafen. Als ich dort ankomme, ist „romantisch“ das erste Wort, das mir einfällt. Wunderschön sieht es aus und ich bin froh, noch einmal losgezogen zu sein.
Als ich wieder am Hotel bin, esse ich ausgehungert all meine Einkäufe auf. Meiner Hose sieht man die zurückgelegte Strecke an, sie ist bis zum Knie verschlammt. Ich wasche sie und friere. Erneut beanspruche ich mein Muskelwärme-Balsam, um nach einer heißen Dusche nicht-frierend und erschöpft einzuschlafen – bereits vor 21 Uhr.
Dieser Beitrag ist Teil meines Reiseberichts zu meiner Jakobsweg-Wanderung entlang des Camino del Norte im Februar 2018 mit der Laufstrecke Ribadeo – Gijón – Santander – Bilbao.
Weitere Berichte zu meiner Wanderung auf dem spanischen Camino del Norte:
Tag 0: Flug ins verschneite und heizungslose Spanien
Tag 2: Hagel, das Tal des Grauens und atemberaubende Meerblicke
Tag 3: Rote Knöchel, Bündel und Wälder auf einer der schönsten Etappen
Tag 4: Atemnot, Tierfreundschaften und das wunderschöne Cudillero
Tag 5: Ausbruch aus dem Hotel, Schmerzen und eine kleine Weltreise
Tag 6: Verpasster Bus, Weltuntergang in Gijón und unfreundliche Spanier
Tag 7: Regen, Sonne und Irland-Feeling in Begleitung
Tag 8: Regen, Regen und Alpakas auf dem Weg nach Viveda
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