Tag 2 auf dem Camino del Norte. Meine Strecke führt mich von Tapia de Casariego nach Canero. Nach einer Busfahrt gehe ich rund 32,75 Kilometer, für die ich fast zwölf Stunden brauche. Ich lege rund 949 Meter Aufstieg und rund 1.001 Meter Abstieg zurück. Lies hier, was der Hagel mit meinen Augenlidern macht, wie ich Super Mario inmitten von Lava imitiere und wie ich nach meinem ganz persönlichen Tal des Grauens mit roten Knöcheln zum heizungslosen Hotel stapfe … Infos zu meinen Reisen findest Du hier, auf Instagram und auf Youtube. Auf Twitter und über Telegram wirst Du zudem über neue Beiträge informiert. Hier geht’s zur Übersicht der einzelnen Tage. Weitere Fotos vom Jakobsweg findest Du auch in der Fotoparade zum ersten Reisehalbjahr 2018.
Um 5:20 Uhr klingelt mein Wecker und ich bin einigermaßen erholt. Ich glaube es regnen zu hören. Um kurz nach 6 stehe ich an der Straße in dem ausgestorbenen Dorf und warte auf den Bus. Der Hotel-Mitarbeiter vom Vortag leistet mir Gesellschaft. Berichtet, dies sei die schlimmste Winter-Woche des gesamten Winters. Super! Er versteht hier immer noch nicht, dass ich eben keinen Kaffee trinken wollte.
Es regnet immer mehr und schließlich kommt der Bus. Die normalen Busse sind hier wie Reisebusse bei uns. Ich staune – vor allem über die fast geschenkten Preise. Kurz bevor ich aussteige, bemerke ich, dass ich von einem Mann hinter mir unentwegt angestarrt werde. Ich stelle fest, dass ich noch nicht mal die Leggings trage, sondern die weite Hose und mich ganzheitlich in meinem Wander-Outfit nicht wahnsinnig ansprechend finde. Ich bin mir sicher, hier nie in meiner Leggings unterwegs zu sein. Nicht nach der LKW-Fahrer-Erfahrung gestern.
Um Punkt 7 Uhr stehe ich alleine im Dunkeln an einer Straße in Villapedre und fotografiere mit Blitz ein Jakobsweg-Schild. Ich denke, die Frau hat mich extra genau am Schild rausgelassen, denn eine Bushaltestelle sehe ich nirgendwo. Wie nett. Ich bin voller Energie und schnell unterwegs. Ab durch die Finsternis. Ich sehe nicht viel, wenn nicht gerade Laternen da sind. Puerto de Vega ist ein kleiner Ort, durch den ich gehe.
Gegen 7:50 Uhr wird es dezent hell, aber nicht hell genug, um gute Fotos zu machen. Ich stehe auf einer Klippe am Meer und staune über gigantische Wellen und erneut über die Winddichte meiner Jacke, die mich rettet. Der Wind peitscht über mich hinweg, die Jacke hält. Der Ausblick ist atemberaubend. Alles ist weiß, vor Wellen. Wahnsinn! Der Weg führt mich zum Hafen und schließlich raus aus dem Ort.
Es dauert nicht lange, bis mich mitten auf einem Feldweg ein Platzregen mit Hagel überrascht. Nie hat mir nasses Wetter so weh getan. Ich denke, es sprengt mir meine Augenlider weg. Ich denke es sprengt meine Nase weg. Ich beuge meinen Kopf komplett nach unten und versuche mich zu verstecken. Es funktioniert nicht. Alles ist nass. Alles schmerzt. Ich sehe, dass die Wolken Richtung Meer weniger werden und eile dorthin.
Unterwegs begegnet mir ein Fuchs. Eine Weile stehen wir und starren uns an. Dann gehen wir weiter. Dann starren wir uns wieder an. Dann gehen wir getrennte Wege. Ich erreiche die Klippen am Meer und komme aus dem Staunen nicht mehr raus. Es ist traumhaft schön! Der Weg hat sich so sehr gelohnt! Atemberaubend. Meine Hose ist komplett nass, die Leggings darunter auch. In den Schuhen ist es weiterhin trocken und auch die Jacke, über die ich zur Sicherheit schon morgens noch eine Regenjacke zog, hat gehalten.
Ohne Regen, aber mit extremen Regenwolken in Sichtweite, ziehe ich weiter. Gegen 10 Uhr bin ich komplett durchgefroren und stelle mich während eines kurzen Schauers neben einer überdachten Mülltonne unter. Nahe des Schildes zum Playa de Barayo mache ich minutenlang Squats und Lunges, in der Hoffnung, dass mir warm wird. Es funktioniert nur bedingt. Unfassbar unangenehm ist inzwischen, dass die Verlängerungen meiner Ärmel mit den Daumenlöchern komplett nass und somit auch kalt sind.
Ich stelle fest, dass ich mit meinen super teuren Wanderschuhen auf nasser Straße schnell wegrutsche. Um 10:03 Uhr dokumentiere ich genau das. Danach packe ich mein Smartphone zum Laden in den Rucksack, damit es dort zusammen mit dem Power Bank sein kann und kein Kabel draußen herum hängt, da es nach Regen aussieht.
Nachdem ich das Smartphone weggepackt habe, gehe ich einen Waldweg runter, der zum Playa de Barayo führt. Ich sehe, wie sich die grauen Wolken nähern und werfe schnell noch meinen Poncho über. Auf einmal hagelt es. So sehr, dass der Boden stellenweise komplett weiß ist. Ich verstecke mich so gut es geht unter einem Baum vor den schmerzenden Wurfgeschossen. Als es aufhört gehe ich weiter.
Irgendwann denke ich, dass der Boden schon recht matschig ist. Dann denke ich, dass die Pfützen schon recht groß sind. Ich rutsche oft aus und kann mich abfangen. Die Pfützen werden größer, der Schlamm immer schlammiger. Plötzlich befinde ich mich in einer Art Sumpfgebiet. Fernab jeder Zivilisation. Ich versinke im Schlamm. Bis zum Rand der Schuhe. Ich fluche lautstark herum und bleibe mit Poncho und Hose und Schuhen ununterbrochen an Dornen hängen, die überall zu sein scheinen und auch von oben herab hängen.
Ich blicke zurück und realisiere, dass es kein Zurück gibt. Ich muss weiter. Mein Puls erhöht sich. Ich fühle mich wie Super Mario, der von Stein zu Stein über Lava springt – nur ohne Steine. Ich versinke, stecke fest, springe, halte mich an Ästen fest und ziehe mich aus dem Sumpf. Ich fühle mich auch wie Artax, das Pferd, das in der unendlichen Geschichte im Moor versinkt und stirbt.
Was harmlos mit Wasser anfing, entwickelt sich plötzlich zu einem Alptraum. Ich mutmaße nur, in welche Richtung ich gehen muss, ich habe keine Technik außer meiner Kamera griffbereit, ich traue mich nicht langsam zu werden, weil ich dann versinke und ziehe für eine Sekunde noch in Erwägung, schnell noch mit Gott zu kommunizieren. Ich verwerfe den Gedanken zugunsten lautstarker Rumflucherei. Zwischendurch denke ich noch Sätze wie: „Wie zur Hölle können die Schuhe so gut sein?“ Ich springe von Fleck zu Fleck, werde von Dornen gehalten, greife nach Ästen, um mich aus dem Schlamm zu ziehen. Ich fluche und fluche und fluche! Es dauert eine Weile, bis ich durch den Sumpf durch bin und das Wasser wieder klar wird – immerhin werden meine Schuhe so sauber.
Als ich wieder normalen Weg erreiche, spüre ich die Erschöpfung. Ich zog da unten wirklich in Erwägung, dass ich mir den Kopf an einem Bauch anschlage, wenn ich ausrutsche oder was auch immer und niemals in diesem Sumpf gefunden werde. Ich bin vollkommen fertig und blicke zurück. Hinter mir fast nur Wasser. Wie bin ich da durch gekommen? Ohne Flüssigkeit in den Schuhen? Ich blicke an mir herab: mein Poncho hängt in Fetzen an mir herunter, zerrissen von all den Dornen. Ich checke meine Kleidung: alles ganz geblieben. Ich staune. Staunend und absolut erschöpft schleppe ich mich den steilen Berg hoch, das Tal überblickend, das für mich zum Tal des Grauens wurde.
Erst um 11:10 Uhr bin in Otur. Dort suche ich die erste Bar auf, die ich finde. Ich trinke zwei Tassen Tee, die jeweils nur einen Euro kosten. Langsam wärme ich mich auf. Nach einer halben Stunde versuche ich im Bad den gröbsten Dreck von meiner Hose zu entfernen, ziehe weiter und bin schnell wieder komplett durchfroren. Ich gehe weiter. Gegen 12:40 Uhr fängt es wieder an zu regnen. Alle Wege sind überflutet, ständig versinke ich in Schlamm und Wiesen und meine Hose ist bis über die Knie verschlammt. Meinen Poncho habe ich so gut es geht geknotet, da ich meiner Jacke in Kombination mit der dünnen Regenjacke immer noch nicht traue.
Ein Pferd auf einer Wiese sieht mich, dreht eine Runde im Kreis und verbeugt sich vor mir. Ich stehe und staune. Sehe aus wie Lily (How I Met Your Mother), wenn sie Marshalls neue Eroberung stalken will, in der Zeit, in der sie getrennt sind. Ich hasse, dass ich keine wärmende Kapuze habe. Mein Funktionstuch ist nass. Mir ist kalt. Ich bin genervt und mag die Strecke nicht. Gegen 13:45 Uhr spüre ich mein Knie. Ich habe keine Lust mehr. Ein nicht angeleinter Hund kläfft mich an und rennt hinter mir her. Ich drehe mich um und fahre ihn an, dass er die Fresse halten und chillen soll. Er verstummt, starrt mich an und geht zurück. Ich bin genervt und habe einfach keine Lust mehr. Vor allem bin ich ein wenig froh, dass der Hund mich nicht einfach zerbissen hat und beschließe ein solches Risiko kein zweites Mal einzugehen …
Gegen 14:30 Uhr erreiche ich endlich Luarca und erfreue mich am schönen Ausblick über dieses kleine Dorf. Weniger erfreue ich mich an meinem Anblick in einer Spiegelung. Verschreckt gehe ich weiter, setze mich in ein Café und bestelle Essen und Tee. Erneut bin ich mit Staunen beschäftigt: versifft wie ich bin, würde ich mich ja rausschmeißen. Man lässt mich aber da sein und ist sogar nett. Meine Socken sind oben am Rand nass und kalt.
Bevor ich gehe, verbringe ich gefühlte drei Jahre im Bad und versuche meine Thermoleggings sowie die Socken zu föhnen. Der nasse Stoff rieb schon die ganze Zeit an meiner Haut, die nun schmerzt. Vor allem links schmerzt der Knöchel, da der Schuh durch die Nässe und Kälte nun noch enger anzuliegen scheint und alles drückt und reibt. Ich beschließe die Thermo-Leggings nicht mehr anzuziehen und gehe weiter. Kurz nachdem ich das Café verlasse, beginnt es erneut zu regnen. Mir ist kalt. Ich bin schon wieder genervt und habe wahnsinnige Schmerzen seit ich wieder laufe. Schmerzen überall oberhalb der Knöchel, wo die Schuhe anliegen.
Laut Google Maps existiert irgendwo ein Supermarkt, den es aber nicht gibt. Der zweite Supermarkt hat Mittagspause. Ich habe Schmerzen. Ich bin hochgradig genervt. Dennoch dokumentiere ich, dass ich zu dem Hotel gehe – und wenn es das letzte ist, was ich mache. Ich bleibe vorher kurz stehen und sehe mir meine Knöchel an. Alles ist rot. Ich habe keinen Nerv, mich im Regen darum zu kümmern und beschließe das erst im Hotel zu machen.
Ich lande an einem Friedhof, Severo Ochoa Tomb, von dem aus man das Meer sehen kann. Direkt entlang einer kurvigen Straße, die den Berg hochführt. Da ich Friedhöfe liebe, schaue ich mir auch diesen an und finde ihn sehr beeindruckend. Ich gehe danach um die Kurve und finde, dass sich die Strapazen des Tages alle gelohnt haben, denn der Ausblick ist fantastisch! Um 16:30 Uhr finde ich auch erstmals wieder ein Jakobsweg-Schild. Es folgt eine Strecke mit alten Villen und hochmodernen Häusern. Endlich ist nur noch blauer Himmel in Sicht und die Sonne wärmt und trocknet mich. Dennoch habe ich Schmerzen, bei jedem Schritt.
Um 18:45 Uhr erreiche in endlich das Hotel, in dem es erneut wieder keine Heizung gibt, die erwähnenswert ist. Das Restaurant macht leider erst um 20 Uhr auf, also verbringe ich die Zeit im Zimmer mit duschen, liegen und frieren. Ich versorge zudem meine Knöchel, die ziemlich geschwollen sind – vor allem links. Alles ist wund geschrubbt. Ich suche eine Bahnverbindung für den kommenden Tag und finde nichts.
Im Restaurant stelle ich fest, dass die Frau des Eigentümers scheinbar das Essen selbst macht. Es dröhnt vom Eingangsbereich ein Fernseher, vor dem ihr Mann mit den Enkelkindern sitzt. Einen zweiten will sie für mich, den einzigen Gast, anstellen. Ich lehne dankend ab. Mit einem Tablet übersetzt sie mir die Essensauswahl, wobei ich nicht ganz sicher bin, was ich bestellt habe. Am Ende sind es viel zu viele Nudeln mit vielleicht Tomatensauce und ein riesiger Salat, leider mit Thunfisch und sowieso fast nur aus Öl und Zwiebeln bestehend. Ist mir egal, ich würde alles essen. Später wird versucht, mir etwas hinsichtlich Bahn oder Bus zu erklären. Ich beschließe erst mal zu schlafen und falle um 21:30 Uhr mit Schmerzen und frierend ins Bett.
Dieser Beitrag ist Teil meines Reiseberichts zu meiner Jakobsweg-Wanderung entlang des Camino del Norte im Februar 2018 mit der Laufstrecke Ribadeo – Gijón – Santander – Bilbao.
Weitere Berichte zu meiner Wanderung auf dem spanischen Camino del Norte:
Tag 0: Flug ins verschneite und heizungslose Spanien
Tag 1: Unerwartetes Trampen, Belästigung und fantastische Küste
Tag 3: Rote Knöchel, Bündel und Wälder auf einer der schönsten Etappen
Tag 4: Atemnot, Tierfreundschaften und das wunderschöne Cudillero
Tag 5: Ausbruch aus dem Hotel, Schmerzen und eine kleine Weltreise
Tag 6: Verpasster Bus, Weltuntergang in Gijón und unfreundliche Spanier
Tag 7: Regen, Sonne und Irland-Feeling in Begleitung
Tag 8: Regen, Regen und Alpakas auf dem Weg nach Viveda
Was Dich auch interessieren könnte:
- Alle Beiträge zu meiner Wanderung auf dem Camino Portugues
- Meine 13 Etappen auf dem Camino del Norte
- Vollständige Packliste: Unter 5 Kilogramm für 500 Kilometer auf dem Camino del Norte in 15 Tagen
- Wie viel kosten Übernachtungen in Hotels entlang des Jakobswegs in Spanien?
- Welche Schuhe für den Jakobsweg im Februar in Spanien?
- 7 Kleidungsstücke für den Jakobsweg im Februar in Spanien inklusive Kosten und Gewicht
- 72 km an einem Tag gehen – mein privater Wandermarathon
- 6 Gründe, warum man als Frau alleine reisen sollte
- Wie hebe ich im Ausland kostenlos Bargeld ab?
Hallo Claire,
das ist ja verrückt. Ich hätte bestimmt schon nach diesem Tal aufgegeben und den nächsten Flieger nach Deutschland genommen. Gut, dass du da heil raus gekommen bist!!!
Marleen
Hallo Marleen,
ach, das Aufgeben bereut man glaube ich schnell. Lieber durchziehen, es warten ja dann immer neue, spannende Abenteuer. :)
Alles Liebe,
Claire