Tag 3 auf dem Camino del Norte. Meine Strecke in Spanien führt mich von Canero bis Llanorrozo. Nach einer Busfahrt gehe ich rund 41,34 Kilometer in knapp 11,5 Stunden. Ich lege rund 911 Meter Aufstieg und rund 825 Meter Abstieg zurück. Lies hier, wie ich mich an drei der schönsten Ausblicke der gesamten Tour erfreue, ich mich wie in einem Horrorfilm fühle und wieder Richtung Santiago de Compostela zurück, statt zu meinem Ziel gehe … Infos zu meinen Reisen findest Du hier, auf Instagram und auf Youtube. Auf Twitter und über Telegram wirst Du zudem über neue Beiträge informiert. Hier geht’s zur Übersicht der einzelnen Tage. Weitere Fotos vom Jakobsweg findest Du auch in der Fotoparade zum ersten Reisehalbjahr 2018.
Um 7 Uhr bin ich wach und starre eine Weile die Decke an. Ich kann wieder Bewegungen machen, die ich gestern nicht machen konnte. Eigentlich wollte ich schon super früh los, werde aber irgendwie nicht fertig. Entsprechend verlasse ich erst um 8:30 Uhr das Hotel. Dort hat die Frau beim Check-Out behauptet, das Zimmer sei noch nicht bezahlt. Meine Notizen sagen etwas anderes, aber ich habe gerade keine Bestätigung zur Hand. Also zahle ich nochmal – wie sich im Nachhinein herausstellt tatsächlich doppelt! Nach etlichen Telefonaten erhalte ich mein Geld zurück …
Ich entscheide mich spontan doch zum Leuchtturm zu gehen, was ich eigentlich sein lassen wollte. Als ich die Straße entlang gehe, kommt mir ein Auto entgegen, das langsamer wird. Auf meiner Höhe bleibt es stehen. Ein alter Mann starrt mich an. Dann fährt er weiter … Meine Knöchel schmerzen noch immer ein wenig, aber dank Voltaren ist alles irgendwie erträglich. Ich hoffe, dass sich nun alles bessert.
Es geht bergauf und mir ist unfassbar heiß. Natürlich ist es aber zu kalt, um auf die Jacke zu verzichten. Eine halbe Stunde brauche ich, bis ich das kleine Dorf erreiche. Ich liebe die Palmen bei Sonnenaufgang. An einer Wäscheleine trocknen rund 20 Plüschtiere. Überall höre ich Hunde und Hähne. Vorbei an Kühen und Pferden gelange ich schließlich zum Meer bzw. an die Klippen (Faro de Busto). Der Ausblick ist atemberaubend und vor allem habe ich ihn ganz für mich allein. Eine Stunde verbringe ich etwa hier und mache etliche Fotos. Am Ende mache ich an einer kleinen Aussichtsecke ein kleines Workout für Oberschenkel und Schultern, da es mehr wärmt, als die Sonne und der Ausblick einfach perfekt geeignet zum Trainieren ist.
Gegen 11 Uhr spüre ich einen stechenden Schmerz rund um meinen linken Knöchel. Zu diesem Zeitpunkt liegen je nach Strecke noch mindestens 20 Kilometer vor mir. Zehn Minuten später schmiere ich mich mitten auf der Straße mit Voltaren ein und mache einen Verband drum. Ich schnüre den Schuh zu eng und habe nun drückende statt stechende Schmerzen. Wie ich das Problem lösen soll, weiß ich noch nicht.
Ein Mann rennt panisch auf mich zu und ruft mehrfach „Camino“. Ich nicke, er ruft weiter. Ich sage „Bilbao“. Er entgegnet erleichtert „Aaaaaah“, dreht sich rum und geht. Mein Kartenmaterial zeigt mir leider nicht an, ob ich einen bestimmten Weg gehen kann oder nicht, also versuche ich es.
Rechts von mir ist eingezäunte Wildnis und mein Blick richtet sich gen Boden, da ich wieder in der nassen Wiese versinke. Als ich meinen Blick hebe, kommt mir aus dem Nichts, aus Richtung Meer plötzlich eine ältere Frau entgegen, die einen langen Ast über der Schulter trägt, an dessen Ende ein rotes Bündel hängt. Ich fühle mich kurz wie in einem Horrorfilm. Sie starrt mich an, als sie an mir vorbei geht, sagt aber keinen Ton. Ich gehe weiter und in den roten Wald, aus dem sie hergekommen sein muss. Ich frage mich, ob dort Menschen geopfert werden. Wie gut, dass ich keine Angst habe …
Irgendwann erreiche ich das Ende des Weges mit dem bislang atemberaubendsten Blick meines Weges. Keine Technik vermag es den Blick oder die Atmosphäre einzufangen, die sich mir dort bieten. Irgendwie freut mich das, weil ich es so einfach für mich habe. Dennoch teile ich den Blick mit anderen.
Mein Kopf ist trotz aller Freude über den Ausblick nicht begeistert, dass ich denselben Weg zurückgehen muss, den ich zuvor bereits gegangen bin. Mit solchen Routen habe ich ein echtes Problem. Schnell werde ich abgelenkt von strahlendem Sonnenschein bei blauem Himmel und der Tatsache, dass ich meine Jacke vor Wärme ausziehen muss. Ich freue mich.
Kurz darauf führe ich ein weiteres Gespräch mit einem sehr alten Mann, der absolut nicht versteht, dass ich nach Bilbao statt Santander gehe und beständig in seiner Sprache gegen meine anredet. Gegen 12:40 Uhr erreiche ich eine Tankstelle. Ich mache eine Pause, esse und erneuere meinen Voltaren-Verband. Inzwischen habe ich an beiden Knöcheln einen Verband. Ich kaufe noch zwei Müsliriegel, da ich seit dem ersten Tag keinen Supermarkt mehr sah, und gehe weiter.
Gegen 14 Uhr sehe ich mir erneut das Kartenmaterial an und stelle erneut fest, dass vermutlich noch über 20 Kilometer vor mir liegen. Ich weiß noch nicht genau, wie ich das schaffen soll. Die Strecke ist teils spannend, obwohl ich viel entlang einer Straße gehe. Die Ausblicke aufs Meer freuen mich sehr. Die Berge sind mit Schnee bedeckt. Die Sonne wärmt mich einigermaßen gut.
Gegen 15 Uhr verlässt mich der Mut, weil noch so viel Strecke vor mir liegt und mir bewusst wird, dass ich es nicht mehr im Hellen bis zum Hotel schaffe. Ich bin vollkommen alleine, mir begegnen auf der Landstraße so gut wie keine Autos oder Menschen. Die Wände entlang der Strecke sind bewachsen und feucht. Wie Regenwald.
Ich habe Schmerzen beim Auftreten. Dennoch gehe ich schneller. Gegen 16 Uhr erreiche ich einen Tiefpunkt und dokumentiere, dass ich nicht mehr kann. Ich denke, mein Knöchel knackt von Zeit zu Zeit. In einem Dorf werde ich erneut aufgrund der falschen Richtung angesprochen. Auf den Höhen ist es unfassbar heiß und man bräuchte nur ein Shirt. Sobald Schatten ist, geht es nicht ohne Weste und Jacke. Ich kann wechselhaftes Wetter auch nicht gut leiden … Spontan und trotz der Schmerzen sowie der fortgeschrittenen Uhrzeit beschließe ich zum Playa del Silencio zu gehen, da ich die Bilder so beeindruckend finde.
Um 17:05 Uhr erreiche ich das Meer und flippe vollkommen aus, ob des Ausblicks. Es ist wunderschön! Ich setze mich auf eine Bank, sehe den Ziegen beim Grasen zu und erneuere meinen Verband. In diesem Moment ist mir auch vollkommen egal, ob ich später im Dunkeln laufen muss oder nicht. Ich sitze und genieße. Essen würde ich gerne, habe aber nicht wirklich mehr viel – Riegel vor allem …
Schwungvoll möchte ich aufspringen und weiterziehen und realisiere im selben Moment, dass ich die Schmerzen für den Moment komplett ausgeblendet hatte. Ein älterer Mann kommt vorbei und redet mit mir in seiner Sprache. Es interessiert ihn gar nicht, dass ich ihn nicht verstehe und er hält seinen Monolog, bis er sich verabschiedet und geht. Nur rund eine halbe Stunde verweile ich an diesem wundervollen Ort und verlasse ihn voll Energie, glücklich und hochmotiviert.
Um 18:15 Uhr betrete ich das Gelände einer Autobahn-Raststätte und habe das Gefühl vom nach-Hause-Kommen. Kaum jemand wird das nachvollziehen können, aber Autos, im Auto schlafen und Raststätten, bedeuten Freiheit und zu Hause für mich. Ich finde leider nichts, das ich kaufen möchte, freue mich aber über ein Bad. Ich fühle mich wahnsinnig erschöpft.
Am Ende des Dorfes folge ich den Jakobsweg-Schildern. Ein Autofahrer lächelt mich an. Ich gehe weiter. Irgendwann passiere ich einen gelben Pfeil und gehe weiter. Etwas später bleibe ich stehen. Ich denke nach. Ich bin zu müde zum Denken. Irgendwas ist falsch. Wieso zeigen die Pfeile in die Richtung, in die ich laufe? Ich bin zu müde, um mich aufzuregen und drehe resignierend um. Rund 500 Meter lief ich um das Dorf herum in die falsche Richtung …
Ich pilgere die Landstraße entlang durch die Dunkelheit und will nicht mehr. Gegen 20 Uhr erreiche ich vollkommen tot das Hotel. Das Apartment ist der absolute Wahnsinn! Noch mehr begeistert mich aber, dass der nette Mitarbeiter mich zu einer Bar fährt und verhandelt, dass mir dort ein Baguette belegt wird. Außerdem kaufe ich Jogurts. Als der Mann mich wieder am Hotel absetzt, freue ich mich dort über Essen, Tee und Kakao. Am meisten vermutlich über die funktionierenden Heizungen und die wahnsinnig tolle Dusche.
Gegen 22 Uhr stelle ich fest, dass ich links keinen Knöchel mehr habe. Alles ist rot und so geschwollen, dass einfach kein Knöchel mehr zu sehen ist. Auf Anweisung schmiere ich beide Knöchel dick mit Salbe ein und nutze die Handtücher für kühlende Wickel. So falle ich um 23 Uhr ins Bett und freue mich noch, dass ich erstmals nicht friere …
Dieser Beitrag ist Teil meines Reiseberichts zu meiner Jakobsweg-Wanderung entlang des Camino del Norte im Februar 2018 mit der Laufstrecke Ribadeo – Gijón – Santander – Bilbao.
Weitere Berichte zu meiner Wanderung auf dem spanischen Camino del Norte:
Tag 0: Flug ins verschneite und heizungslose Spanien
Tag 1: Unerwartetes Trampen, Belästigung und fantastische Küste
Tag 2: Hagel, das Tal des Grauens und atemberaubende Meerblicke
Tag 4: Atemnot, Tierfreundschaften und das wunderschöne Cudillero
Tag 5: Ausbruch aus dem Hotel, Schmerzen und eine kleine Weltreise
Tag 6: Verpasster Bus, Weltuntergang in Gijón und unfreundliche Spanier
Tag 7: Regen, Sonne und Irland-Feeling in Begleitung
Tag 8: Regen, Regen und Alpakas auf dem Weg nach Viveda
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