Tag 5 auf dem Camino del Norte. Meine Strecke in Spanien führt mich zunächst von Soto del Barco bis Luanco. Insgesamt gehe ich rund 38,8 Kilometer in knapp 12:37 Stunden. Ich lege rund 697 Meter Aufstieg und rund 674 Meter Abstieg zurück. Lies hier, wie ich aus meinem Hotel ausbreche, mich fast zu Tode stürze und gefühlt einmal um die Welt wandere … Infos zu meinen Reisen findest Du hier, auf Instagram und auf Youtube. Auf Twitter und über Telegram wirst Du zudem über neue Beiträge informiert. Hier geht’s zur Übersicht der einzelnen Tage. Weitere Fotos vom Jakobsweg findest Du auch in der Fotoparade zum ersten Reisehalbjahr 2018.
Vor 6 Uhr klingelt der Wecker. Ich packe, schmiere extrem viel Pferdesalbe auf meine Knöchel und bin dann bald fertig. Generell ist nun die Schwellung fast weg, die Haut aber weiterhin kaputt. Als ich das Hotel verlassen will, überlege ich, wie ich am besten raus komme. Es gibt eine Eingangstür und draußen ein Tor. Zunächst gehe ich raus und prüfe, ob das Tor auf ist. Ist es nicht.
Ich versuche beide Schlüssel, die ich besitze und kann mit keinem davon das Tor aufschließen. Irritiert starre ich das Schloss an. Es kann nicht passen, stelle ich schnell fest. Keine Chance. Ich drehe mich um und starre die noch geöffnete Haustür und die Theke an der Rezeption an. Und nun? Ich bin pünktlich, habe aber nicht wirklich einen Puffer eingeplant.
Ich denke. Sehe mich um. Überall hoher Zaun. Ich habe keine Zeit, irgendwen zu wecken. Ich lege den Schlüssel auf der Theke ab und ziehe die Tür hinter mir zu. Räume Blumenkübel zur Seite. Steige auf die erste Mauer und von dort aus auf die höhere. Ziehe mich am Zaun hoch, der oben Zacken hat. Vorsichtig wechsle ich die Seite ohne aufgespießt zu werden. Dank Muskelkraft lasse ich mich langsam und vorsichtig auf der anderen Seite auf einen Vorsprung von rund zwei Zentimetern ab. Ich stoße mich ab und lande in einer Wiese, die höher ist, als meine Schuhe. Ich seufze und gehe los. Ich bin ausgebrochen!
Ich muss mich beeilen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Zug noch erreichen kann. Ich entscheide streckenweise zu rennen, um nicht zu spät zu kommen. Schließlich erreiche ich den Bahnhof, kann aber nicht rausfinden, auf welchem Gleis ein Zug in welche Richtung fährt. Ein Ticket kann ich auch nirgendwo ziehen. Es gibt nur zwei verriegelte Fenster, zwei Türen wie aus „The Walking Dead“ und eine Landkarte.
Etwas unschlüssig hinsichtlich der Gleiswahl stehe ich herum. Der Zug hätte schon da sein sollen. Ich gehe doch auf das zweite Gleis. Ich höre einen Zug. Natürlich bin ich auf dem falschen Gleis. Ich renne. Der Zugführer öffnet sein Fenster und ich frage, ob der Zug nach Avilés fährt. Er bejaht. Ich frage, wo ich zahle und verstehe die Antwort nicht. Sitze alleine im Zug und hoffe, dass die Richtung stimmt.
Etwa nach einer halben Stunde, als schon mehrere Menschen zugestiegen sind, kommt der Zugführer heraus und sagt mir, ich müsse die nächste aussteigen. Wie nett! Um 7:35 Uhr erreiche ich den Bahnhof und verstehe nicht, wie ich ihn verlassen kann. Ich frage eine Frau, die am Automaten Avilés eingibt und ein Ticket für 1,65 Euro löst. Das erscheint mir falsch, aber ich kann damit immerhin nach draußen.
Es ist immer noch dunkel, aber ich bin topfit und hochmotiviert. Ich freue mich, unterwegs zu sein. Ich platze fast vor Energie. Und mir ist ein wenig kalt. Ich denke darüber nach, mir am nächsten Tag Handschuhe zu kaufen und frage mich, wie gut ein guter Regenponcho wohl wäre, wenn mich die Billigvariante schon so beeindruckt hat.
Ich freue mich, dass ich nicht zuletzt dank des extra noch gekauften Power Bank keinerlei Ladeprobleme habe und mir keine Akku-Gedanken machen muss. Trotz der ganzen Technik, die ich mit dabei habe. Während ich über Technik nachdenke, laufe ich an riesigen Fabriken vorbei. Ich gehe davon aus, dass es bald noch schön wird und nutze noch schnell das Bad einer Tankstelle. Ich liebe es, so früh schon unterwegs zu sein. Während alle anderen schlafen oder gezwungen unterwegs sind.
Für alle Fälle halte ich kurz und ziehe präventiv meine Kniebandage über die Thermoleggings und unter die wasserabweisende Hose. Außerdem nehme ich einen der nicht verwendeten Socken und wickle ihn um meinen Knöchel, über den Verband. Darüber ziehe ich die Leggings und den Socken, den ich trage. Es ist jetzt unglaublich dick, aber es fühlt sich stabilisiert an. Ich mutmaße, dass der Schmerz von mangelnder Stabilität kommt. Diese Lösung wirkt erst einmal gut. Besser als nur der Verband.
Ich esse zwei riesige Scheiben Brot, die größer als meine Schuhe sind, mit Kochschinken und passiere ein Firmengelände nach dem anderen. Alle starren mich an. Ich denke keiner versteht, dass ich hier pilgere. In der Ferne sehe ich Berge mit Schnee. Irgendwie schon verrückt, im Februar hier unterwegs zu sein …
Seit etwa 8 Uhr ist es hell und ich mutmaße, dass ich bald erschossen werde, weil ich ständig Firmengelände fotografiere … Gegen 9 Uhr erreiche ich endlich schöne Gegenden inkl. Meer und stelle während einer kurzen Pause fest, dass sogar meine Jacke voller Schlamm ist. Die Sonne scheint. Ich freue mich!
Rund eine Stunde später stehe ich auf einem Hügel und sehe in der Ferne, woher ich komme. Das ist mit einer meiner liebsten Momente bei langen Strecken. Wenn man sehen kann, was man bereits geschafft hat. Kurz erreicht mich leichter Regen, dann ist es aber wieder trocken. Eigentlich war der Regen sogar recht wohltuend.
Mein Knöchel sticht wie Hölle. Ich kann nicht beschreiben, ob es mehr ein Stechen oder ein Rausreißen ist, aber es schmerzt so sehr, dass ich einen Moment lang denke, ich falle einfach um. Mitten im Nirgendwo. Zwischendurch bleibe ich stehen. Aus der Ferne bellen mich aggressive Hunde an. Beständig. Ein nicht-angeleinter Schäferhund ist glücklicherweise vollkommen desinteressiert an mir.
Ich fühle mich wie in Irland und denke, dass ich irgendwann den Wild Atlantic Way laufen will. Oder wenigstens fahren. Ich stehe ganz vorne an einer Klippe und mache Fotos. Als ich mich umdrehe, denke ich nicht mehr dran, dass es dort die Wiese runter einen Abhang gab. In letzter Sekunde kann ich mich dank des Rucksackgewichts noch nach hinten reißen und stürze nicht den Abhang hinab. Glücklicherweise reiße ich mich auch nicht so stark in die Gegenrichtung, dass ich ebenso nicht die Klippe hinunterfalle. Dennoch: es ist super knapp und mein Puls rast! Das hätte übelst schiefgehen können!
Das Wetter ist ganz nett. Manchmal scheint die Sonne, manchmal ist leichter Regen, der für eine angenehme Abkühlung sorgt. Um 11:30 Uhr setze ich mich an eine Klippe und esse Kekse. Der Ausblick ist fantastisch. Ich gehe weiter und bin begeistert. Ein wenig erinnert es mich auch an Australien. Ich bin bald am Strand und lande erneut in einer Sackgasse, weil alles geflutet ist. Am Strand sieht alles aus wie in den Niederlanden am Meer.
Gegen 14:40 Uhr nutze ich das Bad einer Bar und bin erstaunt, dass dort verkleidete Kinder umherspringen. Um 15 Uhr erreiche ich fast einen Tiefpunkt. Ich bin müde, ich habe Hunger und ich bin mir bewusst, dass ich noch eine lange Strecke vor mir habe. Ich fühle mich wie in 101 Dalmatiner: sobald ein Hund bellt, fängt ein Stück weiter der nächste an. Die Kette zieht sich so ewig fort.
Ich entscheide mich dennoch in eine Sackgasse zu laufen, weil ich mir erhoffe, dass es dort schön ist. Ein Sturm zieht auf und ich kämpfe dagegen an. Es ist anstrengend. Ich lande am Ende der Welt mit schneebedeckten Bergen in der Ferne und fühle mich fast wie in Atlanta auf Stone Mountain. Gegen 16 Uhr habe ich noch über sieben Kilometer vor mir und schon rund 28 hinter mir.
Dennoch mache ich eine kurze Pause nach 17 Uhr an einem Picknicktisch. Ich esse und blicke in die Ferne. Ich bin müde und möchte nicht mehr. Es regnet leicht. Meinem Knöchel geht es besser. Die Lösung mit der Socke zur Stabilisierung hat sich als exzellent erwiesen. Ich bin so müde, dass ich meine Abkürzung verpasse und gehe somit die extra Meile.
Irgendwann lande ich auf einer Wiese mit Steinen und Rohren, die laut meiner Karte ein Weg sein soll. Ich bin genervt. Gegen 19 Uhr erreiche in endlich das Hotel in Luanco und der Mann fragt mich, ob ich nach Spanien geflogen sei. Ich scheine also nicht so auszusehen, wie ich mich fühle. Die Stadt sei nur 700 Meter weit weg, sagt er, falls ich noch essen will. Ich starre ihn an. 700 Meter? Dafür bin ich zu tot.
Natürlich stelle ich nur meine Sachen ab und gehe in die Stadt. Es ist eine wunderschöne Hafenstadt und ich würde das nicht verpassen wollen. In einem Supermarkt kaufe ich mir noch einen Salat und andere Snacks und gehe wieder zurück. Die vielen Menschen überfordern mich. Ich bin Menschen gar nicht mehr gewohnt.
Im Hotel teilt mir der Mann mit, wann am nächsten Tag Frühstück ist. Ich gehe aufs Zimmer und esse. Überlege, ob ich seinem Rat folgend dann doch einen Zug nehme und dafür dann länger schlafe und frühstücke. Ich bin mir unsicher. Die Heizung im Bad geht und deshalb wasche ich meine verschlammte Hose und putze meine Schuhe ordentlich. Ich freue mich, dass ich heiß duschen kann und beschließe morgen wirklich später loszugehen. Um etwa 22:15 Uhr schlafe ich.
Dieser Beitrag ist Teil meines Reiseberichts zu meiner Jakobsweg-Wanderung entlang des Camino del Norte im Februar 2018 mit der Laufstrecke Ribadeo – Gijón – Santander – Bilbao.
Weitere Berichte zu meiner Wanderung auf dem spanischen Camino del Norte:
Tag 0: Flug ins verschneite und heizungslose Spanien
Tag 1: Unerwartetes Trampen, Belästigung und fantastische Küste
Tag 2: Hagel, das Tal des Grauens und atemberaubende Meerblicke
Tag 3: Rote Knöchel, Bündel und Wälder auf einer der schönsten Etappen
Tag 4: Atemnot, Tierfreundschaften und das wunderschöne Cudillero
Tag 6: Verpasster Bus, Weltuntergang in Gijón und unfreundliche Spanier
Tag 7: Regen, Sonne und Irland-Feeling in Begleitung
Tag 8: Regen, Regen und Alpakas auf dem Weg nach Viveda
Was Dich auch interessieren könnte:
- Alle Beiträge zu meiner Wanderung auf dem Camino Portugues
- Meine 13 Etappen auf dem Camino del Norte
- Vollständige Packliste: Unter 5 Kilogramm für 500 Kilometer auf dem Camino del Norte in 15 Tagen
- Wie viel kosten Übernachtungen in Hotels entlang des Jakobswegs in Spanien?
- Welche Schuhe für den Jakobsweg im Februar in Spanien?
- 7 Kleidungsstücke für den Jakobsweg im Februar in Spanien inklusive Kosten und Gewicht
- 72 km an einem Tag gehen – mein privater Wandermarathon
- 6 Gründe, warum man als Frau alleine reisen sollte
- Wie hebe ich im Ausland kostenlos Bargeld ab?
Kommentar verfassen