Manchmal läuft alles anders als erwartet. „Wenn der Urlaub zum Alptraum wird“, muss nicht zwangsläufig etwas mit schlechten Hotels oder schlechtem Service zu tun haben. Private Umstände können auch dazu führen, dass es unterwegs einfach keinen Spaß macht. Meine Reise nach Blackpool in England, zum Elvis-Festival Anfang Juli, fing so an, dass ich gar nicht erst fliegen wollte. Schließlich habe ich mich dann doch überreden lassen, in den Flieger zu steigen und zu denken, dass vor Ort sicher alles besser würde. Wurde es nicht! Im Gegenteil … Dieser Umstand hat schließlich dafür gesorgt, dass ich am Ende nicht nur erstmals im Eurotunnel, sondern auch mitten im aktuellen Flüchtlingsdrama von Calais gelandet bin und inzwischen schon mehrfach gebeten wurde, hier darüber zu schreiben …
Nach einigen Tagen in Blackpool und vor meiner Abreise über Glasgow zurück nach Edinburgh, von wo aus mein Flug nach Deutschland gegangen wäre, entschied ich mich wie einst Jack und Kate „hier und jetzt“ die Insel zu verlassen. Ich wollte weg – und zwar so schnell wie möglich. Erst mal Flüge ab Manchester gecheckt. Nichts … Dann zum Bahnhof – die verkaufen aber keine Tickets „nach Europa“. Der zweite Mann hat dann erst vom „europäischen Festland“ gesprochen. Mir alles egal, ich will nur mein Ticket. Erst mal nach London. Dort soll ich dann ein Ticket für den Eurostar nach Calais kaufen. Das habe ich gemacht. Insgesamt hat mich der Spaß rund 300 Euro gekostet. Dafür hätte ich auch Interrail machen können, was mir sonst immer zu teuer ist …
Die Fahrt mit dem Eurostar führt mich also durch den Eurotunnel in nur rund einer Stunde direkt nach Calais-Frethun. In Calais war ich zuletzt 2014. Zufällig, weil ich mich verfahren hatte. In Calais-Frethun war ich noch nie. Ein winziger Bahnhof mit zwei Gleisen. Eine Eingangshalle. Nicht viele Menschen steigen mit mir aus. Unten stehen zwei Taxen. Sie fahren dann bald, weil außer mir schon alle weg sind und ich nicht den Anschein mache, einsteigen zu wollen. Ich telefoniere und versuche herauszufinden, wann ich abgeholt werde. Es gibt keine Straßenschilder und niemand weiß, wo ich bin. Ich gehe wieder rein und will mir die Straßenkarte ansehen.
Der Bahnhofsmann spricht gebrochen Englisch und macht mir klar, dass er jetzt den Bahnhof abschließt. Ach so, na gut, bitte nur schnell auf die Karte sehen. In Ordnung. Hinter mir dann plötzlich Streit und Gebrüll im Gebäude. Auf Französisch und Englisch versucht er einem anderen Mann klarzumachen, dass er sich nicht mehr im Bahnhof aufhalten darf. Beide sind wahnsinnig laut und irgendwie auch aggressiv. Ich stehe dumm daneben, starre die Karte an, versuche telefonisch Anweisungen durchzugeben und sehe, wie der Mann die Tür abschließt. Ich denke alle sollen gehen!? Ich beobachte und weise weiter an. Irritiert. Da das mit den Anweisungen sowieso nicht funktioniert, nehme ich Blickkontakt auf und versuche klarzumachen, dass ich gerne raus möchte. Interessiert niemanden. Die Männer schreien sich weiter an. Der Bahnhofsmann will sogar schon die Polizei rufen …
Schließlich öffnet der Mann die Tür und lässt mich raus. Ich bedanke mich höflich und warte an einer Bank. Mehr ist auch nicht da. Nichts und niemand ist da. Nur Büsche, mir gegenüber – an einem Hang hoch zu einer nicht befahrenen Straße. Der andere Mann ist verschwunden. Dann kommt der Bahnhofsmann und fragt, ob ich abgeholt würde. Ja. Wann? Keine Ahnung, bald hoffentlich. Besser sei es, ich solle hier nicht alleine stehen. Zu gefährlich. Gefährlich? Ich schaue mich um – nichts weit und breit. Was soll hier gefährlich sein? Frage ich ihn dann auch. Migranten, sagt er. Migranten? Hm. Ok, sage ich und schicke eine SMS mit der Info, dass gefährlich und bitte beeilen. Er sagt, dass er wieder rein müsse, aber er beobachte mich über die Kameras, damit alles in Ordnung sei. Während er mir das sagt, gestikuliert er wie wild das Gesagte, indem er mit Zeige- und Mittelfinger etwa fünfmal von seinen Augen auf die Kameras und zurück zeigt. Ich frage mich, ob er das für irgendwen macht, den ich nicht sehe …
Ich stehe also und warte. Warte … und warte … Irgendwann höre ich Geräusche im Gebüsch gegenüber. Denke darüber nach, was zur Hölle hier so gefährlich sein könne. Denke an Jan Phillipp Reemtsma, der in seinem Buch „Im Keller“ beschreibt, wie er im Moment vor seiner Entführung dachte: „Das ist größer als eine Katze“. Denn ich denke auch, dass die Geräusche im Gebüsch nicht von einem Tier kommen. Ich sehe mich schon in der weiblichen Hauptrolle von „Taken 4“ (allerdings ohne Liam Neeson, der meine Entführer finden und töten wird …) und mache mir außerdem Sorgen um meinen neuen Laptop, den ich ebenfalls geklaut sehe. Aber dann denke ich, dass ja wohl niemand da im Gebüsch sitzen würde!? Doch, vielleicht. Jetzt passiert es, denke ich. Nach diesem Höllentrip durch England und den immensen Kosten, um von dort wegzukommen, passiert jetzt einfach was Schlimmes! Der Bahnhofsmann kommt wieder. Er steht neben mir und fragt nochmal, wann ich denn jetzt abgeholt würde, denn er könne mich auf keinen Fall alleine hier stehen lassen. Bald, hoffentlich. Ob ich auch eine Zigarette wolle. Nicht. Smalltalk.
Schließlich ein Auto in Sichtweite. Endlich. In meinem Kopf gab es inzwischen schon diverse Verschwörungsszenarien, die den Bahnhofsmann und „die Migranten“ beinhalteten. Eigentlich bin ich nicht wirklich ängstlich in verlassenen Gegenden, aber der Mann hat seinen Job überzeugend gemacht und mir wirklich Angst gemacht. Er wirkt unglaublich erleichtert, als ich sage, dass ich nun abgeholt würde – und das wohl nicht nur, weil er endlich Feierabend machen kann. Er betont noch mehrmals, wie unglaublich gefährlich es derzeit für Frauen in Calais sei und dass ich auf keinen Fall alleine draußen sein solle. Ich bedanke mich, dass er mit mir gewartet hat und steige ins Auto. Dort werde ich begrüßt mit: „Super krass! Überall Flüchtlinge und Polizei! Überall!“ Wir fahren ein paar Minuten und ich sehe nichts und niemanden. In meinem Kopf häufen sich schon Gedanken und Sätze wie: „Mann, müssen die alle so übertreiben …!?“ Die Straße ist zweispurig, in der Mitte ist riesiges, ziemlich dichtes Gebüsch. Plötzlich kommen da zwei … wie sagt man … „stark pigmentierte“ Männer raus. Zerreißen das halbe Gebüsch, das dann auf der Straße liegt.
Ich sitze im Auto – mit offenem Mund. Drehe meinen Kopf nach rechts. Es geht einen Hang hinab und unten sind Wiesen mit vereinzelten Bäumen. Es ist schon fast dunkel. So stelle ich mir eine Safari in Afrika vor: Überall sitzen Menschen in kleinen Gruppen auf dem Boden. Als würde man in Afrika Tiere in Gruppen beobachten! Denn ich sitze im verschlossenen Auto und starre in die Ferne auf die vielen Gruppen auf den Wiesen! Ich sehe wie Wäsche an Bäumen hängt, ich sehe Menschen auf der Wiese schlafen und sitzen, durch das Gebüsch streifen, am Straßenrand oder auf der Straße sitzen, stehen und laufen und vor allem sehe ich plötzlich ein riesiges Aufgebot an Polizei! Überall! Darunter auch riesige Vans mit etlichen Polizisten in der Nähe. Ich nehme wahr, dass das Gebüsch überall total zerfetzt und kaputt ist, weil die Flüchtlinge sich dort wohl immer durchschlagen. Mir ist irgendwie gar nicht mehr wohl und ich bin froh und dankbar, dass der nette Bahnhofsmann mich nicht alleine stehen lassen hat!
Zurück in Deutschland lese ich von dem Flüchtlingsdrama in Calais und von all den Problemen, die gerade um dieses Datum herum scheinbar einen bisherigen Höhepunkt erreichen. „Das Flüchtlingsdrama spitzt sich zu“ – so und so ähnlich wird überall getitelt. Ich lese von LKW-Fahrern, die bedroht werden, von Flüchtlingen, die verzweifelt versuchen über den Eurotunnel von Frankreich nach Großbritannien zu kommen. Von Problemen, die immer schlimmer werden und kaum noch zu kontrollieren sind. Nun, einen Monat später, lese ich immer noch über die Probleme, die Calais mit Flüchtlingen hat und kann kaum fassen, dass ich da unwissend mitten hineingeraten bin. Eigentlich dachte ich auch, vor Ort ganz viele Fotos gemacht zu haben – in meinem allgemein genervten und in Calais dann zusätzlich irritierten Zustand habe ich das aber wohl tatsächlich einfach vergessen.
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