Das Berliner Tempodrom, eine Stunde vor Beginn der Abendvorstellung des Roncalli Weihnachtscircus. Noch sind alle 2.750 Plätze leer. Als Patrick Philadelphia im dunkelblauen Pullover, mit Jeans und Schal die Manege betritt, blicken ihn rund 30 Artistenschüler mit großen Augen an. Er lebt das Leben, von dem sie alle träumen: das Zirkusleben. Sonst kennen die Zuschauer den Betriebsleiter des traditionsreichen Circus Roncalli nur im roten Frack als Sprechstallmeister. Nun beantwortet er leger gekleidet die Fragen der Artistenschüler und berichtet über die heutigen Herausforderungen eines Zirkus sowie die Chancen, als Artist Karriere in Europa zu machen. In der anschließenden Abendvorstellung machen sich die Schüler schleßlich live ein Bild davon, wie ihre Zukunft aussehen könnte …
Der 12-Jährige Mike sitzt neben Patrick Philadelphia und berichtet enthusiastisch, dass er gerne Handstand- und Trapezartist werden möchte. Die Zirkuswelt scheint ihm in den Genen zu liegen, denn er erzählt, dass bereits einige seiner Vorfahren im Zirkus tätig waren. Um an seiner Artistenschule aufgenommen zu werden, muss man mindestens in der 5. Klasse sein. Jeden Tag lernt er neben dem normalen Unterricht rund drei Stunden Artistik, auch in der Theorie.
Patrick Philadelphia betont in diesem Kontext, dass jeder gute Artist über eine solide Ballettausbildung verfügt und die meisten auf dem Rand der Manege sitzenden Jungs stöhnen kichernd. Patrick grinst verständnisvoll und erklärt zusätzlich die Notwendigkeit des Schminkens. Er fügt hinzu, dass die meisten Jungs das auch immer „blöd“ finden. Roncalli als nostalgischer Zirkus legt im Vergleich zu anderen, moderneren Zirkusunternehmen jedoch sehr großen Wert auf die Kostüme und das Schminken.
Reich werden kann man als Artist nicht. Das sagt Patrick Philadelphia ungeschönt und direkt. Wer für eines der größten und besten Zirkusunternehmen Europas arbeiten will, muss unbedingt „Gas geben“ und sein Ziel vor Augen haben. Wer es zu einer Gala schafft, kann laut Patrick rund 1.000 bis 2.000 Euro pro Abend verdienen, aber die europäische Konkurrenz ist gut, betont er, und man muss für den Job und den Zirkus leben.
Bei Roncalli gibt es im Gegensatz zu anderen großen Zirkusunternehmen keine Castingabteilung, die austauschbare Artisten sucht. Patrick Philadelphia betont, dass es hier immer um die Persönlichkeit geht. Nur nicht-austauschbare Nummern werden für eine Saison oder auch länger eingekauft. Unverwechselbare Charaktere seien wichtig. Jene, die genau wissen, wie sie dem Publikum eine Nummer vermitteln. Zweitbesetzungen gibt es nicht. Ist jemand kurzfristig krank, wie an diesem Abend die Kontorsion-Artistin Elayne Kramer, wird die Nummer gestrichen.
Ein junges Mädchen unter den Artistenschülern fragt, ob Roncalli auch Tiere auftreten lässt. Patrick Philadelphia erklärt, dass exotische Tiere viel Auslauf brauchen und der Zirkus aber meist auf kleinen Plätzen gastiert. Was der Zirkus nicht bieten kann – in diesem Fall also eine artgerechte Haltung der Tiere – lässt er weg. Auf Pferde hingegen will Roncalli in keinem Fall verzichten, denn ohne Pferde gibt es laut Patrick gar keinen Zirkus. Kurz erläutert er die Herkunft des Zirkus, der aus dem Pferdetheater in England entstanden ist und dass deshalb die Manege rund ist.
Er erzählt weiter, dass der Roncalli-Gründer Bernhard Paul seinen Zirkus nach Papst Angelo Guiseppe Roncalli benannt hat: dieser war dem Zirkus und den Zirkusleuten stets sehr zugetan. Bernhard Paul ist übrigens kein Zirkuskind, sondern wuchs in Österreich auf, mit dem Traum eines Tages Clown zu werden. Nach dem Kauf einiger Wohnwagen investierte er schließlich auch Geld in ein Zelt und damit war der Circus Roncalli geboren. 2016 feiert der Zirkus sein 40-jähriges Bestehen und gastiert zum 13. Mal mit dem Weihnachtscircus im festlich geschmückten Tempodrom.
Patrick Philadelphia ist selbst im Zirkus geboren und aufgewachsen und auch wenn er früh feststellte, für einen Artisten zu „groß und ungelenk“ zu sein, erfüllte er sich den Traum das Zirkusleben weiterzuleben. Seit 1996 ist er bei Circus Roncalli, nachdem er zuvor für einige andere namenhafte Zirkusunternehmen arbeitete. Bei Roncalli ist der Mann, dessen Vorfahre der amerikanische Zauberkünstler Jakob Meyer ist, als Betriebsleiter dafür verantwortlich, dass alles rechtzeitig steht und bespielbar ist. Als Tagesregisseur ist er zudem für den Spielablauf zuständig und als Sprechstallmeister führt er durch die Show.
Ein Haus hat Patrick Philadelphia inzwischen in der Nähe von Köln, aber nach zwei Monaten dort wird er nervös und vermisst das Reisen. Am Reisen begeistert ihn vor allem, immer neue Leute kennenzulernen und sowieso ist für ihn jeder Tag im Zirkus anders. Freunde besucht er außerdem an den Spielstätten des Zirkus. Wenn mal Zeit für Urlaub ist, meist im Februar, macht er mit seiner Frau Elisa, die ebenfalls bei Roncalli arbeitet, seiner Artisten-Tochter Geraldine und seinem Sohn Justin am liebsten Kreuzfahrten in aller Welt. Diese bieten für ihn zwei Vorteile: er lernt in kurzer Zeit sehr viel kennen und zwinkernd fügt er hinzu, dass er sich in den engen Kabinen wie im Wohnwagen und somit gleich wieder heimisch fühlt.
Kurz nach dem Treffen mit den Artistenschülern tritt Patrick Philadelphia geschminkt und im roten Frack vor das Publikum. Man habe die Show nicht absagen wollen, um ein Zeichen zu setzen. Statt einer Schweigeminute für die Opfer auf dem Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche am Vorabend, wolle man mit umso mehr Applaus der Opfer und Angehörigen gedenken. Nach dieser kurzen Ansprache beginnt der Roncalli Weihnachtscircus, der ganzheitlich mit imposanter Lichttechnik überzeugt. Der vielfach ausgezeichnete Clown Housch-ma-Housch eröffnet den Abend und führt gleich sein wohl am meisten verwendetes Wort ein: „kaputt“. Das Publikum ist vom ersten Moment an begeistert und obwohl er kaum spricht, zieht der zierliche Mann es sofort in seinen Bann.
Insgesamt rund 30 Artisten und Künstler treten während der 2,5-stündigen Show im Tempodrom Berlin auf und begeistern oder erstaunen das Publikum. Unterstrichen wird das Ganze musikalisch auf den Punkt genau vom Roncalli Royal Orchestra unter der Leitung von Georg Pommer. Das Duo Polonski zeigt perfekte Körperbeherrschung mit jeder Menge Eleganz, während Empress als weihnachtliche Königin durch die Manege schwebt und drei weiteren Artisten die Keulen zuwirft und mit ihnen gemeinsam jongliert.
Der legendäre Hochseilartist Freddy Nuck fasziniert die Zuschauer mit seiner Performance in schwindelerregender Höhe. Herausragende Akrobatik am chinesischen Mast zeigt das Duo You and Me aus Kasachstan und die drei durchtrainierten Ukrainer Extreme Fly überzeugen mit ihren Darbietungen am Reck. Auch the Historians bieten eine überragende Pole-Nummer mit meterhohen Stangen, die sie zusammen mit bis zu drei Artisten daran auf der Stirn oder den Schultern balancieren und als die ägyptischen Araber um Sandor Donnert herum galoppieren, ist das Publikum ebenfalls begeistert.
Diese und mehr Nummern haben während des Roncalli Weihnachtscircus voll überzeugt. Sechs Tänzerinnen in weihnachtlichen Kostümen führten mit passender Musik durch die Umbaupausen und nicht nur die Kleinsten staunten bei vielen Auftritten. Am Ende schneite es zu bunter Beleuchtung Konfetti und Luftschlangen sowie schließlich sogar Kunstschnee zu einem fantastischen blau-weißen Lichtspiel der großen Diskokugel. Ein Besuch des Roncalli Weihnachtscircus im Berliner Tempodrom ist absolut zu empfehlen und ich bedanke mich herzlich für die Einladung zum Gespräch mit Patrick Philadelphia sowie zur Show. Roncalli gastiert noch bis 2. Januar 2017 in Berlin. Mehr Infos zu Circus Roncalli sowie allen Shows sind auf der offiziellen Webseite zu finden.
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