Ich reise viel. Sehr viel. Auf meinen Reisen treffe ich jede Menge Menschen. Fast immer werde ich gefragt: „Welches Land hat Dir am besten gefallen?“ Ich finde solche Fragen unfassbar schwierig zu beantworten, da man z. B. kaum die USA (9,83 Mio. km²) mit Andorra (468 km²) vergleichen kann. Dennoch kann man davon ausgehen, dass ich ziemlich schnell von der Ukraine zu schwärmen beginne – einem Land, das mich seit meinem ersten Besuch im Jahr 2018 sofort abgeholt und nie mehr losgelassen hat. Was nun geschieht, bricht mir das Herz. Meine Liebeserklärung an die Ukraine.
2018 ist mein Billigflieger- und Europa-Jahr. Ich laufe den Jakobsweg, bin in Aserbaidschan und Georgien, erkunde Gran Canaria, bin mit dem Zug in Dänemark und Schweden unterwegs, auf Malta, in Schottland, Sofia und Vilnius. Außerdem an einigen anderen Orten. Und in Lviv. Es gibt einen günstigen Flug in die mir vollkommen unbekannte Stadt in der gefühlt so fernen Ukraine. Einem Land, über das ich nicht viel weiß. Flug und Hotel sind unfassbar günstig, der Zeitraum passt, also los. Die Reaktionen sind relativ einheitlich: „Was, bist Du irre? In die Ukraine? Das ist voll gefährlich!“ Ich halte mich für einen tendenziell eher risikoaffinen Menschen, der zudem findet, „bad decisions make the best stories“. Meine Antwort ist also ein Schulterzucken.
Am Abend vorher spreche ich mit jemandem über das Wetter. Meist checke ich das, in diesem Fall aber nicht. Mir wird also ein Schal für alle Fälle mitgegeben. Vollkommen übermüdet lande ich im vollkommen vereisten Lemberg bzw. Lviv (gesprochen ungefähr Löwif, eher mit einem französischen „le“ am Anfang). Schnell stelle ich fest, dass sich die Temperaturen ausschließlich zwischen -1°C und -15°C bewegen und ich in keinem Fall auch nur halbwegs passend angezogen bin. Genau genommen bin ich so unpassend angezogen, dass ich alles anziehe, was ich dabei habe und mir zudem Winterstiefel kaufe, da ich mich mit meinen Sneakern unglaublich lächerlich und vor allem kurz vor einer Amputation fühle.
Ein Bus bringt mich ins Stadtzentrum. Im Hotel platzt die Frau an der Rezeption fast vor Aufregung, dass es mein erster Besuch in ihrem Land ist. Unglaublich herzlich heißt sie mich willkommen und bringt mich bis ins Zimmer, um mir alles zu zeigen. Ich erkunde die Stadt einige Tage und bin hin und weg – von der Architektur, der Gesamtatmosphäre, dem Mangel an Touristen, der es wahnsinnig authentisch und liebenswert macht, und den Menschen. Die Menschen sind so herzlich, so bemüht. Sie können fast alle kein Englisch, aber sie machen dennoch alles in ihrer Macht stehende, um einem zu helfen. Ich bin verliebt – und alle anderen sind überrascht, dass ich sage, dass ich mich hier so sicher fühle, dass ich sogar im Dunkeln durch Unterführungen gehe. In Deutschland überlege ich mir das meist zweimal. Kein Mann beachtet mich, ich fühle mich 100% sicher. Selten kehre ich an Orte zurück, aber mir ist klar: ich werde wiederkommen. Ich will mehr sehen von der Ukraine.
Weiterhin vollkommen geflasht von meinen Erlebnissen in Lviv lasse ich mich nicht lange bitten und reise wenige Monate später nach Kyiv – eine Stadt, die mir inzwischen von einigen Menschen maximal ans Herz gelegt wurde. Wieder habe ich nicht viel Kenntnis was mich erwartet und buche einfach. Diesmal bleibe ich länger und plane noch einen Ausflug nach Chernobyl ein. Der Anflug auf Kyiv haut mich um. Was für eine Stadt! Wie groß ist sie eigentlich? Ich habe keine Ahnung. Der Ausstieg aus dem Flugzeug haut mich noch mehr um: 34°C. Der absolute Kontrast zu meiner letzten Ukraine-Erfahrung. „Voll die pulsierende Metropole“, dokumentiere ich, ebenso wie „Wusstest Du, dass Vitali Klitschko hier Bürgermeister ist?“. Die Busfahrt ins Zentrum haut mich ebenfalls um. Wie groß verdammt nochmal ist diese Hauptstadt? Bald erfahre ich es: fast drei Millionen. Fuck, damit hatte ich nicht gerechnet. Groß, ja. War mir klar. Aber so groß? Wahnsinn. Ich bin der Stadt hilflos ausgeliefert, sie nimmt mich komplett ein mit ihrem Flair, ihrer Architektur, ihrem Essen, ihrer Gastfreundlichkeit, ihrem unbeschreiblichen und unvergleichbaren Charme. Ich habe schon viele Länder und Städte bereist, aber Kyiv scheint „the place to be“.
Die kommenden Tage sind für mich unbeschreiblich. Wahnsinnig intensiv, ich sauge alles ein, was die Stadt zu bieten hat, bin von morgens früh bis abends spät unterwegs und möchte alles erkunden. Chernobyl tut sein Übrigens und knackst mein Herz an. Es ist die Zeit der fünfteiligen Miniserie Chernobyl, die ich jedem ans Herz lege. Ich sehe sie erst nach meiner Rückkehr. Ich verlasse Kyiv mit einem bunten Herz voller Leben und kann die Energie, die von Stadt und Menschen ausgeht kaum fassen. Zweimal fragte ich jemanden nach dem Weg: einmal ging jemand fünf Minuten einen Umweg mit mir, einmal schloss jemand seinen Laden – nur um mir zu zeigen, wohin ich muss. Ich traf schon freundliche und hilfsbereite Menschen in einigen Ländern – aber was ich in der Ukraine erlebte, ist mir noch nie passiert. Bedauernswert waren einzig meine mangelnden Russischkenntnisse, da so kaum ein Austausch möglich war. Einen wundervollen Kontakt gewann ich dennoch – und schon bald gab es ein Wiedersehen in Deutschland.
Aus diesem Kontakt entstand der Wunsch nach Kyiv zurückzukehren, einer Stadt, für die ohnehin ein Besuch nicht ausreichend ist. Als ich den Sommer 2020 für einen längeren Ukraine-Aufenthalt plane, nun ja … Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben und somit fliege ich im Sommer 2021 zurück nach Kyiv bzw. in die Ukraine, da wir einen riesigen Roadtrip geplant haben. Zusätzlich plane ich ausreichend Zeit in Kyiv ein, da ich die Stadt weiter erkunden möchte. In glühender Hitze ziehen wir munter Striche über die Landkarte und ich fühle mich jede Sekunde unendlich dankbar, so viel von diesem traumhaft schönen Land sehen zu dürfen. Der Unfall bestätigt nochmals: noch nie habe ich derart hilfbereite Menschen erlebt. Ich bin zutiefst beeindruckt und mein Vergleich dieser Situation mit derselben in Deutschland fällt beschämend jämmerlich aus.
Weiterhin kann ich sagen: ich fühle mich in der Ukraine 100% sicher – selbst als wir einige Kilomter von der Krim entfernt einen pinken See besuchen. Ich lerne über Wochen hinweg so viel über die Ukraine und liebe den Austausch. Vor allem bleibt hängen, dass der „neue“ Präsident, der 2019 gerade frisch gewählt war und die Tore zur Straße des „Hauses mit den Chimären“, der Residenz des ukrainischen Präsidenten, für die Bürger öffnete, bereits einiges zum Guten wenden konnte. Dass er tatsächlich eine Veränderung mitbrachte. Wolodymyr Selenskyj, der Schauspieler und Comedian, der einst Jura studierte. Der sechste Präsident, der näher am Volk scheint, als jeder seiner Vorgänger. Der authentische Symphathieträger, der mit 73 % der abgegebenen Stimmen gewählt wurde. Oft ist eine mögliche Bedrohung durch Russland Thema, doch die Message ist ziemlich klar: solange man sich nicht in die bekannten Regionen im Osten bzw. an der Krim begibt, ist alles gut.
„I just woke up with the news that people heard explosions in Kyiv“
Ich kenne mehrere Leute in der Ukraine bzw. die von dort stammen und regelmäßig zu Besuch sind. Ich schildere nun nur einen Fall. Mit zunehmender Berichterstattung 2022 schicke ich eine Nachricht, ob ich mir Sorgen machen müsse. Nein, alles gut, man sei bald im Urlaub in den Bergen. Ok. Rund zwei Wochen später wache ich auf mit Nachrichten und Videos, die mir aus Frankreich zu Kyiv geschickt wurden. Auf meine Überraschung und mein Unverständnis, da ich kurz vorher im Gespräch noch sagte, dass es schon gut gehen wird bzw. muss, folgt die Nachricht „Call this fireworks if you please“, übersetzt „Nenn es Feuerwerk, wenn du willst“. Weiterhin nichts verstehend, schicke ich im Halbschlaf also Nachrichten nach Kyiv und als Antwort folgt bald: „I just woke up with the news that people heard explosions in Kyiv“, übersetzt: „Ich bin gerade mit der Nachricht aufgewacht, dass man in Kiew Explosionen gehört hat“. Irgendwann an diesem Tag brach es mir das Herz.
Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert. Ich kann nicht glauben, dass von der Ukraine, wie ich sie kennen und lieben gelernt habe, im Zweifel nicht viel bleiben wird. Ich kann nicht fassen, was mir an Bildern geschickt wird, was ich für Videos sehe. Wir hatten einen zweiten Roadtrip geplant. Ich sage jedem: flieg in die Ukraine, es ist das Land! Noch nie erhielt ich von so vielen Menschen aus meinem Umfeld Nachrichten. Jeder weiß, dass ich mein Herz an die Ukraine verloren habe. Jeder weiß, dass ich dort Menschen kenne. Jeder scheint denselben Schmerz zu spüren, selbst wenn er noch nie da war. Und umso mehr, falls doch. Selbst von Menschen, mit denen ich keinen Kontakt mehr habe, erreichen mich Nachrichten im Sinne von „ich muss wegen der Ukraine ständig an Dich denken, Du magst es da doch so sehr“.
Ich bin beeindruckt, wie vereint Menschen aus allen Ländern in ihrem empfundenen Schmerz sind. Ich bin bestürzt, wie hilflos wir uns alle fühlen. Ich kann mir nicht im Ansatz vorstellen, wie schlimm es sein muss, jetzt in der Ukraine zu sein. Ich bin nicht gut auf Nachrichten zu sprechen, in denen steht „Gott sei Dank warst Du da jetzt nicht“. Ich bin vielleicht nicht im Land, aber mit dem Herzen bin ich da. Und ich kann nicht im Ansatz verstehen, wie es sein muss, das Land nicht verlassen zu können, weil man ein Mann ist, weil man seinen Partner nicht verlassen will oder gar ohne Partner zu gehen, weil man sein Kind retten will. Ich kann mich nicht im Ansatz hineindenken, wie es sein muss, wenn neben einem Bomben hochgehen oder Panzer alles zerstören. In einer Stadt zu sein, aus der man nicht fliehen kann. In einem Land, in dem unfassbar friedliebende Menschen einfach nur ihr meist sehr einfaches Leben leben möchten (Durchschnittsverdienst 2021 waren 412 Euro monatlich). Der Gedanke an all das treibt mir die Tränen in die Augen. Den Schmerz spüre ich als Klumpen im Magenbereich. Es zerreißt mich, diese Situation mitanzusehen.
Jetzt im Winter lernte ich jemanden kennen, der einst mit dem Zug quer durch Russland fuhr. Billigstes Ticket, nah am echten Leben. Seine Schilderungen haben mich maximal inspiriert – keiner braucht eine transsibierische Eisenbahn für echte Erlebnisse. Ich war noch nie in Russland, ich sah es nur einmal von Narva in Estland aus. Ich hatte irgendwie immer Respekt und die Sache mit St. Petersburg und dem Schiff ohne Visum hatte zeitlich noch nie gepasst. Im Winter dachte ich dann ernsthaft darüber nach, dass so eine Tour ja wirklich wahnsinnig gut sein könnte. Der Gedanke ist verschwunden. Was bleibt ist Schmerz.
Ebenfalls nicht wissend, wie man solch eine Liebeserklärung in derartigen Zeiten passend beendet, möchte ich Bilder statt Worte nutzen. Hier findest Du mein Video zu meinem Roadtrip durch die wundervolle Ukraine. Bitte teile dieses Video, damit die Menschen einen Einblick bekommen, welches liebenswerte Land da gerade vernichtet wird:
Möglichkeiten, Infos direkt aus der Ukraine zu beziehen:
Official account of the Parliament of Ukraine (Telegram): https://t.me/verkhovnaradaofukraine
The official channel of the President of Ukraine Volodymyr Zelenskyi (Telegram): https://t.me/V_Zelenskiy_official
Möglichkeit zu Spenden:
https://savelife.in.ua/en/donate/
Möglichkeit, eine Unterkunft zu stellen:
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