2015 spreche ich mit Elvis-Imitator Dean Z nicht nur über seinen stressigen Job und das Reisen, sondern auch über absichtlich erzeugte Umgebungsgeräusche, zum Beispiel zum Einschlafen. Vollkommen wahnsinnig empfinde ich, dass er zum Schlafen über eine bescheuerte App bescheuerte Regengeräusche abspielen lässt. Fast auf den Tag genau zwei Jahre später greife ich zum Tablet und stelle je hälftig einen knisternden Kamin und Regen, der auf Pflanzen tropft, ein. Timer: 20 Minuten – bis dahin sollte ich eingeschlafen sein. Ich lege das Tablet auf den Tisch und erstarre für einen Moment. Ist das jetzt schon die vierte Nacht mit Umgebungsgeräuschen? Habe ich je mehr als zwei Minuten davon mitbekommen?
Ich blicke aus dem Fenster auf die Großstadt. Momentan ist alles still, immerhin ist es vier Uhr morgens. Nicht mehr lange, bis wieder alles bevölkert und laut ist, alle von A nach B eilen, um wichtigen Dingen nachzugehen oder sich zu präsentieren. Ich greife erneut zum Tablet und deaktiviere die Geräusche. Es ist wieder still. Totenstill. Und Zeit! Es ist Zeit, zur Ruhe zu kommen – und zwar nicht mit Hilfe einer lauten App. Ich entscheide mich für drei Monate im Exil und buche noch in derselben Woche eine Ferienwohnung für Herbst und Winter. Der Weg führt mich in den mir bis dahin weder wirklich vertrauten noch geliebten hohen Norden: nach Schleswig-Holstein.
Meine Vermieterin wartet auf mich vor dem Haus. Mit einem Strahlen begrüßt sie mich. Sie sei noch „maritimes Klopapier“ kaufen gewesen. Hm. Rechts von uns liegt der Yachthafen. Ich frage mich, wieso ich hierhin eigentlich nicht meinen Sportbootführerschein mitgenommen habe … Abgesehen von dieser Fahrerlaubnis und meinem Jahr in Miami Beach hat mich bislang wohl kaum etwas mit dem maritimen Lebensstil verbunden. Weder konnte ich mich je für Leuchttürme begeistern, noch trug ich jemals blau-weiß-rote Kleidung mit Ankern oder „Ahoi“-Aufdrucken. Ein älteres Ehepaar nähert sich uns. „Mo-hoin!“, rufen beide enthusiastisch. „Moi-jen!“, entgegnet meine Vermieterin ebenso freudig. Ich stehe daneben und lächle. Moment mal, sagt man das hier wirklich? Ja gut, sicher, weil es noch so früh ist …
Mein Herz schlug ab der späten Jugend mitunter für Hamburg, wo ich oft war und viel Zeit verbrachte. Ich hatte den Wunsch, eines Tages dort zu wohnen, wurde jedoch mit dem Klima nicht warm – es war mir zu grau und kalt. Jeden Sommer meiner Kindheit verbrachte ich rund um Lübeck, lernte Marzipan hassen und das Meer nicht lieben. Irgendwie war es noch nie so gut um mich und den hohen Norden bestellt. Zwar war ich oft in Schleswig-Holstein unterwegs, verbrachte auch mal eine Woche rund um Silvester in einer Villa am Meer, fahre regelmäßig für meinen Lakritz-Jahresvorrat nach Dänemark, aber irgendwie war alles nördlich von Hamburg immer nur die Gegend „da oben“.
Wenn ich seit der Buchung meiner Exil-Wohnung so sitze und nachdenke, fällt mir nun erstmalig auf, für welches Bundesland mein Herz schlägt. Definitiv NRW. In meiner frühen und späten Jugend schlug mein Herz vorwiegend für Köln und generell finde ich NRW mit seiner zentralen Lage in Deutschland, der Nähe zu Frankreich und den BeNeLux-Staaten sowie aber auch dem Meer und den etlichen Großstädten in unmittelbarer Nähe zueinander einfach unfassbar attraktiv. Bin ich in Köln, freue ich mich ein wenig mehr, als bei Besuchen in Hamburg und sicher gibt es Städte, denen ich mehr verfallen bin, aber müsste ich mich auf ein Bundesland festlegen: es wäre NRW.
So. Nun ist NRW für mich aber definitiv kein Ort zum Entschleunigen und das liegt nicht wirklich am Mangel von Grünanlagen, sondern ist mehr eine emotionale Sache. Mit Schleswig-Holstein verbinde ich von allen Bundesländern fast am wenigsten – weniger wohl nur mit Brandenburg und Bremen – und davon abgesehen bietet es mir die Möglichkeit, endlich mal über die ersten Lakritz-Supermärkte hinauszukommen und Dänemark, Schweden sowie vielleicht auch Norwegen mit dem Auto zu erkunden. Die Wohnung war zudem ein absolut schlagendes Argument: vollverglast, Balkon, hohes Stockwerk, Blick aufs Wasser. Für mich perfekt, abgesehen von fehlender Bodenheizung. Das Ganze übrigens auch noch bezahlbar.
Ich habe bislang 44 Länder bereist, bin es gewohnt, aus dem Rucksack zu leben, nur das Nötigste bei mir zu haben, lebe generell sehr minimalistisch. Ich bin mit dem Gefühl vertraut, auf einem anderen Kontinent zu leben und ich bin – so sehr ich die Technik mitsamt ihren Überwachungsmöglichkeiten nicht mag – sehr dankbar, dass man nicht am selben Ort sein muss, um nahezu grenzenlos Kontakt halten zu können. Ich bin mir all dessen auch bewusst, als ich im Auto sitze und von Hamburg, meinem letzten Stopp vor meinem Einzug, zu meiner neuen Bleibe auf Zeit fahre. Und doch fühle ich mich, als würde ich das Ende der Welt anpeilen. Nicht ganz zu Unrecht, immerhin beeindruckt Schleswig-Holstein mit den verrücktesten Ortsnamen, unter anderem auch „Welt“ und dort natürlich auch einem Ortsausgangsschild, welches das Ende der Welt anzeigt. Dennoch. Ich fühle mich ortstechnisch extrem unglücklich. Ein Gefühl, mit dem ich eigentlich nicht so vertraut bin. Mit jedem Kilometer, den ich fahre, nimmt das Gefühl zu, wiegt schwerer. Zuletzt erlebte ich dieses Gefühl vor Jahren an meinem ersten Tag in Kuala Lumpur, geschuldet aber vor allem einem Mix aus Hunger, Lärm und Übermüdung aufgrund der langen Anreise aus Neuseeland. Gut, auch Berlin und Bayern sind Gegenden, mit denen ich überhaupt nicht kann, aber in Berlin versuche ich auch stets nur kurz zu sein und Bayern reizt vor allem im Süden immerhin mit atemberaubenden Landschaften.
Ich sehe die nordische Landschaft, wie sie braun-grün, flach und irgendwie diesmal extrem dröge an mir vorbei zieht. Der Himmel ist grau in grau. Norden eben. Zuletzt war ich so weit im Norden im Dezember und fuhr auch kurz zum Meer. Was genau will ich jetzt nochmal hier? Ach ja, Exil. Ruhe. Ich hasse grauen Himmel. Regen. Kälte. Sturm. Wenig Tageslicht. Ich frage mich immer und immer wieder, was zur Hölle ich mir bei der Wahl des Nordens für den Winter gedacht habe. Sommer wäre ja etwas ganz anderes. Aber das hier? Das ist so ganz das Gegenteil von allem, was ich machen würde.
Meine Vermieterin schließt die Wohnungstür auf und lässt mich zuerst eintreten. Über den Flur, vorbei an der Badezimmertür, erreiche ich das hell erleuchtete Zimmer. Ich stehe vor einer wunderschönen hölzernen Kommode. Dahinter steht ein riesiges Bett mit einem Nachttisch, ebenfalls aus Holz. Mein Blick fällt auf die Vollverglasung und die breite Fensterbank, auf der ich mich sitzen sehe. Direkt neben den großen, grauen Holzbuchstaben, die das Wort „Moin“ formen. Der Balkon links davon ist eigentlich eher ein Wintergarten, ziemlich groß und zur Wohnung hin sogar bodentief verglast. Vor ihm stehen ein wunderschöner, großer Holztisch und zwei blaue Sessel mit maritimen Kissen, auf denen „Sailing“ steht. Die Küche, links von mir, ist sehr hell gehalten und die Topflappen stellen dank weiß-blau-rot einen ebenfalls maritimen Blickfang dar. Die Wohnung ist klein und schränkt mein Blickfeld nicht durch unnötige Wände aufgrund mehrerer Zimmer ein. Ich habe WLAN, einen Tisch zum Arbeiten, ein Bett zum Schlafen und jede Menge Fenster und Licht, damit ich mich frei fühle. Mehr brauche ich nicht. Sonnenseite wäre perfekt, aber da wäre der Ausblick auch weniger schön. Ich bleibe im Türrahmen stehen, vergleiche gedanklich alles mit den Fotos, die ich vorab sah und bin nur fähig zu sagen: „Oh Gott, ist das schön!“ Alle negativen Gedanken zum Norden sind für einen Moment überbügelt von dieser traumhaften Wohnung.
Am Abend verlasse ich sportlich über etwas mehr als 200 Stufen das Haus, um Essen zu kaufen. Unten begegnet mir erneut ein älteres Ehepaar. „Hallo“, grüße ich lächelnd. „Moin!“, kommt bestimmt zurück. Moin? Also wirklich? Sagt man hier so richtig und ernsthaft und durchgängig Moin? Scheinbar … Ich erinnere mich an meine Hamburg-Zeiten zurück und wie ich da immer „Moin Moin“-mäßig unterwegs war. So ganz verstehe ich nicht, wieso mir das jetzt alles so fremd erscheint. Ich beschließe jedenfalls mir „Moin“ wieder anzugewöhnen – welchen Sinn macht sonst das Reisen, spielt man immer nur sein beständiges Repertoire ab? An der Supermarkt-Kasse teste ich mein neu erlangtes Wissen direkt und grüße um 20 Uhr abends mit Moin. Ein beherztes Moin empfange ich zurück. Ah gut, funktioniert!
Das Gegenteil von allem, was ich machen würde. Hm. Vielleicht ist genau das gerade notwendig. Irgendwelche Hipster-Menschen oder wie auch immer sie sich gegenseitig betiteln, nennen das glaube ich Komfortzone bzw. Ausbruch daraus. Worte, mit denen ich rein gar nichts anfangen kann. Generell die Frage, wieso man immer allem einen Namen geben, sich selbst immer in eine Schublade stecken muss. In einer Welt, in der Schubladendenken angeblich so verpönt ist. Es ist mir alles egal, denn nun sitze ich hier. In Schleswig-Holstein. Und fühle mich ferner denn je. Was verrückt ist, denn hier bedarf es einem Bezugswort und ich weiß ich nicht mal, worauf ich mich beziehe. Worauf sich meine Gedanken beziehen. Ich fühle mich abgeschnitten von der Welt, weg vom Leben. Irgendwie fühlt es sich auch absolut falsch oder seltsam oder wenigstens merkwürdig an, dass das nächste Bundesliga-Stadion eine Ewigkeit entfernt scheint. Hm. Ich merke, wie ich noch zu sehr in Deutschlandkarten denke, statt in Europakarten. Betrachten wir Europa, bin ich hier gar nicht mal so verkehrt. Betrachten wir meinen Wunsch, Skandinavien via Auto zu erkunden, bin ich hier verdammt richtig.
Ich weiß nicht, wieso es mir ausgerechnet hier so schwer fällt, mich zu akklimatisieren. Diese Wohnung mit Bodenheizung und Blick über Rhein und Köln, denke ich mir, das wäre ein Traum – während andere mich um Wohnung und Lage und Ruhe beneiden und sich selbst jene, die sonst schwer zu beeindrucken sind, begeistert hinsichtlich meines Ausblicks zeigen. Die Wohnung selbst macht mich sehr glücklich, ja. Der Gang vor die Tür nicht ganz so sehr. Ich plane das so nicht stehen zu lassen. Nachdem eine Erkältung mein freiwilliges Exil kurz nach meiner Ankunft genau zu dem gemacht und mich über eine Woche ans Bett gefesselt hat, plane ich die verbleibenden Wochen mit jeder Menge „good memories“ zu füllen. Schleswig-Holstein hat ebenso wie Skandinavien viel zu bieten und ich werde die Zeit hier nicht nur mit Arbeit am Laptop vor einem Traumausblick füllen, sondern wie geplant auch zur Ruhe kommen und viel erkunden.
also, man moechte jetzt unbedingt nach Schleswig… Es muss dort fast so schoen sein wie in Atlanta!