Ich schlendere durch Flensburg und betrachte den Hafen, der vor mir liegt. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf. Tut es gut? Hm … Ich bleibe stehen. Gehe ein paar Schritte rückwärts, bis ich vor der Laterne stehe, an der ich gerade noch vorbei gegangen bin. Auf dem gelben Post-It steht die Frage: „Tut es gut, was Du machst?“ Ich starre den Zettel an, sehe mich um, starre wieder auf die sechs kleinen Wörter. Nimmt die sonst keiner wahr? Tut es gut, was ich mache? Habe ich so Zettel nicht schon mal gesehen? Wollte ich nicht mal recherchieren, was sich dahinter verbirgt? Ja, ganz bestimmt. Ich ziehe das Smartphone aus meiner Jeans und mache ein Foto. Das sorgt schließlich dafür, dass sich andere interessiert umdrehen und lesen wollen, was ich fotografiert habe. Dann gehe ich weiter Richtung Innenstadt. Nachdenklich, inmitten des Trubels. Tut es gut? Und wenn ja, wem eigentlich?
Es dauert wieder eine Weile, aber als ich Monate später durch Erfurt laufe und mich der eigentlich ja fast unscheinbare gelbe Zettel mit der Aufschrift „What is left when you are gone“ wieder rückwärts laufen lässt, trage ich es mir direkt als Reminder ein. Ich recherchiere. Ich lande auf der offiziellen Webseite der Erinnerungsguerilla. Sofort bin ich begeistert! Ich erzähle jedem von den kleinen Klebezetteln, die überall in der Welt von Menschen verklebt werden, weil sie die Menschen zum Nachdenken anregen möchten. Zusammen mit anderen bestelle ich Aufkleber. Ich will mitmachen, unbedingt. Die Zettel sind so gemacht, dass sie sich rückstandslos entfernen lassen, also keine Sorge!
Endlich ist es soweit und mir werden meine Aufkleber überreicht. Ich freue mich riesig: ab jetzt wird geklebt! Jedem, den ich treffe, zeige ich die Aufkleber. Fast jeder will welche haben, um sie selbst zu kleben. Fragen, die zum Nachdenken anregen. Gestartet als Experiment und vor allem als Kunst-Projekt im Jahr 2012 und inzwischen sogar ausgezeichnet als „Kultur- und Kreativpilot Deutschland“ – einer Auszeichnung, gefördert von der Initiative Kreativ- und Kulturwirtschaft der Bundesregierung. Die Psychologin Susan Barth steckt hinter der Aktion und hatte bereits 2008 die Idee, Menschen öffentlich auf Fragen aufmerksam zu machen. Was daraus wurde, zeigt sich heute an vielen Laternen, Wänden, Bushaltestellen und Mülleimern weltweit!
Fragen, die bislang gestellt wurden, sind unter anderem folgende: „Wofür lebst Du?“, „Was macht Dir mehr Angst: Freiheit oder Sicherheit?“, „What is left when you are gone?“, „Wie viel ist Dir genug?“, „Wie nah kann man Dir kommen?“, „Wieviel Wahrheit verträgst Du?“, „Kannst Du auch anders?“ und „Warum eigentlich nicht?“. Auf der Webseite der Erinnerungsguerilla, die sich kurz Erguer nennt, kannst Du Fragen vorschlagen oder von Zeit zu Zeit auch für Fragen abstimmen, die dann vielleicht schon bald in Druck gehen und geklebt werden dürfen.
Wenn Du selbst kleben und erinnern möchtest, kannst Du Blöcke auf der Website der Erinnerungsguerilla bestellen. Geld wird dafür keins verlangt, aber als Non-Profit-Organisation freuen sich die Macher natürlich über Spenden. Diese kannst Du am Ende immerhin noch steuerlich absetzen – oder Du siehst es einfach als Investition in eine hoffentlich bessere Welt, denn wer mal gerade nicht aufs Smartphone starrt, kann die Post-Its entdecken und sich mit den darauf gestellten Fragen auseinandersetzen. Alternativ muss halt irgendwann auch der Boden beklebt werden … Zwei Euro pro Block á 25 Fragen decken übrigens die Materialkosten, alles was darüber hinaus geht, wird ins Projekt investiert. Ganz wichtig: je mehr gespendet wird, desto mehr Fragen sind zum Bestellen verfügbar!
„Was bleibt, wenn Du gehst?“ Wenn jemand geht, reißt das vermutlich in den meisten Fällen erst mal ein Loch und wir alle haben wohl schon solche Verluste hinter uns, egal ob Todesfälle, Trennungen oder wenn sich Kontakte eben einfach verlaufen. „Wofür ver(sch)wendest Du Deine Zeit?“ Gute Frage. Im Zweifelsfall kann eine bekannte Suchmaschine bei vielen Menschen sicherlich Aufschluss darüber geben … „Kannst Du auch anders?“ Hm. Bestimmt, aber will ich und wenn ja, was wäre die Motivation? Fragen über Fragen werden von der Erinnerungsguerilla gestellt. Fast keine davon sollte spurlos an einem vorübergehen, denn sie sind meist so offen und grundlegend formuliert, dass sich jeder damit identifizieren können sollte. Wer sie sieht, kann sie ignorieren, sie nur flüchtig mit einem Satz beantworten und abhaken oder sich doch damit auseinandersetzen und sie zumindest für sich selbst ehrlich beantworten. Was irgendwie immer bleibt, ist die zumindest kurzzeitige Gedankenkrise. Der britische Schriftsteller Rudyard Kipling sagte einst: „Willst Du Deinen Traum verwirklichen, dann erwache.“ Vielleicht schafft es die Erinnerungsguerilla ja wirklich, die Menschen zum Aufwachen zu bringen – vielleicht auch Dich?
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